Seltene Erkrankungen, Rare Diseases – im Englischen nicht ohne Grund auch als Orphan Diseases bezeichnet – gelten als die Waisenkinder in der Medizin. „Im Bild der ,verwaisten‘ Krankheiten, der ,Orphan Diseases‘ verdichtet sich alles: die Grundproblematik seltener Erkrankungen, der Ruf der Betroffenen nach Unterstützung und die imperative Verpflichtung einer sozialen Gesellschaft, Letztere zu gewähren – Waisenkinder überlässt man in einer zivilisierten Welt auch nicht einfach ihrem Schicksal“, sagte Assoc. Prof. Univ.-Doz. Dr. Till Voigtländer, vor einigen Jahren in einem Interview.1 In den letzten Jahren ist zwar langsam einiges in Bewegung gekommen, so dass der Begriff der „Orphan“ Diseases zunehmend zugunsten der bloß beschreibenden, aber nicht bewertenden Bezeichnung „Rare Diseases“ oder eben seltene Erkrankungen verlassen wird. Geblieben sind trotz aller Fortschritte die Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen es für die Summe der seltenen Erkrankungen zu begegnen gilt: oft mangelndes Wissen zu seltenen Erkrankungen, mangelnde Sichtbarkeit spezialisierter Einrichtungen und mangelnde Therapiemöglichkeiten.
Unter dem Begriff „Rare Diseases“ subsumiert sind so unterschiedliche Erkrankungen wie die zystische Fibrose, Epidermolysis bullosa ebenso wie beispielsweise die kaum bekannten lysosomalen Speicherkrankheiten Morbus Pompe und Morbus Fabry bis hin zu verschiedenen seltenen Karzinomen und hämatologischen Erkrankungen. Die einzelnen Erkrankungen verlaufen häufig chronisch progredient, gehen vielfach mit starken Beeinträchtigungen oder Belastungen einher. Viele sind lebensverkürzend.
Gemeinsam haben all diese unterschiedlichen Erkrankungen nur eines: sie sind selten. Per definitionem zählt jede Erkrankung dazu, von der nicht mehr als 5 von 10.000 Einwohnern betroffen sind.
Die geschätzte Zahl seltener Erkrankungen liegt in Europa derzeit bei ungefähr 6.000 bis 8.000. Allein in Orphanet, dem frei zugänglichen Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs, sind bereits knapp 6.000 Rare Diseases gelistet.2 Zu beachten ist dabei, dass die Zahl der „existierenden“ Krankheiten auch vom Grad der Spezifizierung in der Klassifikation der einzelnen Krankheitsentitäten abhängt, die wiederum mit dem Präzisionslevel der analytischen Verfahren korreliert. Je differenzierter und präziser die Untersuchungen erfolgen können, umso eher werden Unfällen evident, die zu einer unterschiedlichen Klassifikation führen.3
Unterschiedliche Ursachen. Bei etwa 80 % der gelisteten seltenen Krankheiten ist eine identifizierte genetische Ursache bekannt. Das bedeutet aber nicht, dass allen seltenen Erkrankungen eine genetische Ursache zugrunde liegen muss. Vielmehr zählen dazu auch seltene erworbene Erkrankungen, wie beispielsweise seltene Autoimmunkrankheiten, seltene Infektionskrankheiten ebenso wie seltene hämatoonkologische Erkrankungen. Dazu kommen jene Erkrankungen, bei denen man zwar eine genetische Ursache vermutet, aber noch nicht kennt.
Die Definition des Grenzwertes von 5 pro 10.000 fußt auf der Erkenntnis, dass bei Erkrankungen mit einer Prävalenz, die unterhalb dieses Cut-off-Wertes von 5/10.000 liegt, untern normalen Gegebenheiten für die pharmazeutische Industrie wenig Anreiz zur Forschung besteht. Bereits 1983 wurde in den USA mit dem Orphan Drug Act erstmals der Cut-off-Wert von 5/10.000 festgelegt, die EU hat Ende Dezember 1999 mit der europäischen Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden nachgezogen (Orphan Regulation [EC] Nr. 141/2000)4. Das Ziel dahinter: Anreizsysteme für die Firmen zur Entwicklung von Orphan Drugs zu schaffen.
Zum Maßnahmenkatalog5 zählen Unterstützung und Erleichterung im Zulassungsverfahren ebenso wie besondere Regelungen für klinische Studien. Denn bei Erkrankungen, an denen weltweit vielleicht gerade ein paar Hundert Menschen leiden, können nicht – wie bei häufigen Krankheiten – Studien mit Tausenden Patienten als Zulassungsgrundlage gefordert werden. Ein weiterer Anreiz ist die Markt-Exklusivität: Sobald eine bestimmte Therapie zugelassen ist, darf im Normalfall für 10 Jahre (zumindest aber für 6 Jahre) kein gleichartiges Medikament in dieser Indikation auf den Markt kommen.
www.orpha.net – das zentrale Internet-Portal
Orphanet ist eine gemeinnützige, kostenlose, frei im Internet zugängliche Datenbank für seltene Erkrankungen.
1997 in Frankreich zunächst als nationales Projekt gestartet, seit 2000 als ein europaweites Anliegen durch Fördergelder der Europäischen Union unterstützt, besteht Orphanet heute aus einem Konsortium von 40 Partnerländern und hat sich weltweit als das zentrale Internet-Portal für seltene Erkrankungen etabliert.
Orphanet bietet folgenden Informationsservice:
Eines der zentralen Missverständnisse beim Thema seltene Erkrankungen ist, dass die Gesamtzahl der Patienten unterschätzt wird. Bei einer geschätzten Zahl von 6.000 bis 8.000 Orphan Diseases sind es in Summe 5–7 % der Gesamtbevölkerung, die im Laufe ihres Lebens von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. Das sind mehr als 25 Millionen Menschen in Europa und immerhin mehr als 400.000 Betroffene allein in Österreich1, die an einer seltenen Erkrankung leiden.
Erkrankungen, deren gemeinsamer Nenner nur ihre Seltenheit ist, sind schwer in ihrer Gemeinsamkeit zu beschreiben. Tatsächlich ist das Problem vieler seltener Erkrankungen oft nicht nur ein therapeutisches. Es beginnt bei der Diagnose und beim mitunter langen Weg zur Diagnose. Bei fast allen Tagungen und Meetings wird von Betroffenen eine oft jahrelange Odyssee durch die Institutionen berichtet. Die Diagnose selbst wird mitunter sogar als „Erleichterung“ beschrieben, weil endlich Klarheit besteht. Fehlendes Wissen und Bewusstsein seitens der Versicherungen – etwa bei Bewilligung von Therapien aber auch von Heilbehelfen et cetera – ebenso wie von Sozialeinrichtungen bedeuten weitere Hürden für die Betroffenen. Eine besondere Schwierigkeit bestand – zumindest bis vor kurzem – vor allem auch in der fehlenden Sichtbarkeit spezialisierter Einrichtungen. Selbst wenn für einzelne Erkrankungsbilder in Österreich Expertise bestand, war diese nicht flächendeckend bekannt und sichtbar und standen für erstbehandelnde oder erstdiagnostizierende Ärzte keine Netzwerke und sichtbare Anlaufstellen zur Verfügung.
In den letzten Jahren ist nun langsam einiges in Bewegung geraten, und seltene Erkrankungen sind zumindest mehr ins Bewusstsein gerückt, sozusagen vom Schattendasein ins Zentrum der Bemühungen. Vor 10 Jahren noch ein Randthema und in ihrer Bedeutung unterschätzt oder ignoriert, finden seltene Erkrankungen heute – zumindest in ihrer Gesamtheit – Beachtung und sind im Zentrum gesundheitspolitischer Bestrebungen angekommen. Das gilt auf europäischer Ebene, wo der Europäische Rat bereits im Juni 2009 (!) von den Mitgliedstaaten die Entwicklung nationaler „Aktionspläne“ eingefordert hat und wo mittlerweile nun das Konzept europäischer Referenznetzwerke und Expertisezentren sukzessive umgesetzt wird.6
Die Vernetzung und Bündelung der europäischen Expertise erfolgte übrigens unter österreichischem Vorsitz: Assoc. Prof. Univ.-Doz. Dr. Till Voigtländer war bis 2019 Vorsitzender des europäischen Board of Member States, in dem alle EU-Mitgliedstaaten mit einem Vertreter präsent sind.
Fortschritte in Österreich
Bewegung gibt es aber seit einigen Jahren auch auf nationaler Ebene6, wo zunächst der „Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen“ (NAP.se) – den Empfehlungen des Europäischen Rates vom Juni 2009 folgend – erarbeitet wurde. Nach jahrelangen fachlichen und inhaltlichen Vorarbeiten und einer noch längeren Feinabstimmung zwischen allen relevanten Stakeholdern konnte der „Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen“ Anfang 2015 endlich publiziert werden – ein langer Prozess, an dessen Finalisierung viele (Beobachter, aber auch Beteiligte) schon gezweifelt hatten.
Am Ende, wenn auch verspätet gegenüber den europäischen Vorgaben, stand dann aber ein Dokument, das – den Besonderheiten des komplexen österreichischen Gesundheitswesens entsprechend – alle wesentlichen Systempartner, die essenziell für das Gesundheitssystem sind, nämlich Bund, Länder und Sozialversicherungen, beteiligt. Sukzessive sollen nun die einzelnen Punkte des NAP.se umgesetzt werden. Auch das braucht Zeit, die Implementierung der einzelnen Schritte muss wieder mit den einzelnen Stakeholdern abgestimmt werden.
Österreichische Expertisezentren7: ein langer Weg
Ähnlich viel Geduld wie beim Nationalen Aktionsplan ist nun auch in der Designation von österreichischen Expertisezentren im Rahmen der europäischen Referenznetzwerke gefordert, die europaweit eine maximale Bündelung von Expertise ermöglichen sollen.
Nationale Expertisezentren sollen in ihren jeweiligen Spezialgebieten als Anlaufstelle vor allem zur Erstdiagnose und Therapieeinstellung dienen und für andere medizinische Einrichtungen im In- und Ausland (auch für niedergelassene Ärzte) für Telekonsultationen zur Verfügung stehen. Sie sind aber ausdrücklich nicht als Ersatz für die laufende wohnortnahe Versorgung und Betreuung der Betroffenen gedacht. Diese Zentren sind europaweit wiederum zu Referenznetzwerken vernetzt.
Der österreichische Weg ist auch bei der Designation von Expertisezentren besonders gründlich. Das Ziel ist jedoch auch hier, die Systempartner im Boot zu haben, um die Konzepte abzustimmen und vor allem auch nachhaltig abzusichern.
Als Erfolg der letzten Jahre wird unisono eine merkbar gesteigerte Awareness für seltene Erkrankungen und ein mittlerweile auch wohlwollend positives Gesprächsklima der Systempartner beschrieben. Bis alle Entwicklungen aber versorgungsrelevant werden und die gebündelte Expertise speziell für niedergelassene Ärzte sichtbar und verfügbar wird und auch bei Patienten und potenziell Betroffenen (Stichwort: Dunkelziffer bei „undiagnosed diseases“) ankommt, wird es wohl noch dauern.
Expertisezentren und Mitglieder in
Europäischen Referenznetzwerken
Die Diagnostik und Behandlung seltener und komplexer Erkrankungen erfordert einen enorm hohen Spezialisierungsgrad, der nicht in vielen medizinischen Zentren, oft aber nicht einmal in jedem Land vorhanden ist. Seit 2017 gibt es die sogenannten Europäische Referenznetzwerke (ERN), die einen Zusammenschluss der besten europäischen Zentren des jeweiligen medizinischen Fachgebiets darstellen. Bisher existieren 24 derartige Netzwerke, die primär auf Basis von Telekonsultationen über besonders schwierige Fälle beraten. Österreich ist in allen 24 Netzwerken durch zumindest ein Zentrum vertreten.
Eine Übersicht über die Zentren findet sich auf: http://www.orpha.net/national/AT-DE/index/startseite/
Quellen: