Orthorexie wird als eine extreme Fixierung auf die Auswahl von „gesunden“ und die Vermeidung von „ungesunden“ Nahrungsmitteln verstanden.
Orthorektische Patient:innen beschäftigen sich fast ausschließlich damit, zwischen „guten“ und „schlechten“ Nahrungsmitteln zu unterscheiden, und erleben massive Einbußen in ihrem zwischenmenschlichen Bereich. Ist das zum Teil schon ritualisierte Essverhalten durch äußere Umstände nicht möglich, treten Angstzustände auf. Ob es sich bei diesem Verhalten nur um einen „einseitigen“ Lebensstil handelt oder bereits um eine Krankheit, hängt davon ab, wie viel Leidensdruck es verursacht. Orthorexie ist gegenwärtig keine in gängigen Klassifikationssystemen psychischer Störungen aufgeführte Erkrankung.
Wie wir uns ernähren, gewinnt immer mehr an Bedeutung – nicht nur in medizinischer und sozialpolitischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf unsere Identität. Essen birgt aus einer psychologischen Sicht auch eine antidepressive Haltung in sich, ein essender Mensch bejaht die Welt, indem er diese in sich aufnimmt. Wir treten mit der Welt in Kontakt, wenn wir diese in uns aufnehmen. Wir sind verkörperte Wesen und stehen in einer grundlegenden Beziehung zur Welt als leibliche Subjekte. Alles bewusste Erleben ist nicht nur an den physiologischen Körper als seine biologische Basis gebunden, sondern auch an den subjektiven Leib. Der Leib ist ein Ort basalen Lebensgefühls, der Vitalität, des Behagens und Unbehagens, der Müdigkeit und des Hungers. Der Leib ist auch Resonanzraum für Stimmungen und Gefühle sowie soziokulturelle Entwicklungen. Fragen der Selbstfürsorge, Selbstachtsamkeit und spiritueller Dimensionen können einen Ausdruck darin finden, wie wir uns individuell ernähren.
Das Verhältnis der Ernährung zur Identität ist immer auch entwicklungspsychologisch zu verstehen und findet im Vulnerabilitäts-Stress-Modell psychopathologischen Ausdruck. Auch genetische Vulnerabilitäten, Traumatisierungen und frühe Bezugspersonen haben Einfluss auf den „Hunger auf die Welt“ und darauf, was wir in uns aufnehmen möchten. Was uns schmeckt und wovor es uns ekelt – all dies ist fundamental für unseren Zugang zur Welt und mit unserer Entwicklung verbunden. Symbolisch handelt es sich bei „Was will ich essen?“ nicht nur um die Vorstellung, ob etwas Wahrgenommenes ins Ich aufgenommen wird, sondern ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch in der Wahrnehmung wiedergefunden wird.
Zusätzlich zu diesem psychosozialen und psychoanalytischen Verständnis gilt gesunde Ernährung mittlerweile in der Psychiatrie und der psychotherapeutischen Medizin als eine wesentliche Therapieoption. Neue Erkenntnisse in der Mikrobiom- und Ernährungsforschung konnten zu einer Erweiterung des Behandlungsspektrums psychischer Erkrankungen führen, indem diese nicht nur als Erkrankungen des Gehirns, sondern des gesamten Organismus verstanden werden. Die Diversität und die individuelle Zusammensetzung von Darmbakterien beeinflussen die Darm-Gehirn-Kommunikation über neuronale, immunologische und endokrine Prozesse.
Psychische, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen haben immer einen dimensionalen Charakter. Zwischen Belastungen bis hin zu Störungen besteht ein fließender Übergang. Unverzichtbar für die Behandlung ist es, eine Diagnose zu stellen, die sich nach der Anzahl, der Schwere und der Dauer der Symptome richtet, unter Einbeziehung der individuellen Lebensgeschichte und der gegenwärtigen Lebensbedingungen.
Orthorektisches Essverhalten weist Bezüge zu den Essstörungen, zum Zwangsverhalten, aber auch zu somatoformen Störungen auf. Therapeutisch versucht man, eine Störungseinsicht und Motivation zur Änderung des Essverhaltens zu erzielen und durch Normalisierung des Essverhaltens mittels Ernährungsplänen und Exposition einen Abbau der rigiden Ernährungsregeln zu erreichen. Eine Orthorexie kann nicht selten in eine Anorexia nervosa übergehen, insoweit ist das Thema Orthorexie durchaus sehr präsent.
Anorexia nervosa ist eine sehr schwere und langwierig zu behandelnde Erkrankung. Typisch sind ein starker Gewichtsverlust und anhaltendes Untergewicht. Betroffene haben Angst davor, zuzunehmen, daher schränken sie ihre Nahrungsaufnahme ein und nehmen immer weiter ab. Obwohl sie auffallend dünn sind, empfinden sie sich als unförmig und dick. Es besteht meist keine Einsicht in die Schwere der Erkrankung.
Sie haben Angst, die Kontrolle über das Essen und ihr Gewicht zu verlieren. Sie kontrollieren ihre Nahrungsaufnahme, essen sehr wenig und verzichten vor allem auf kalorienreiche Speisen. Sie entwickeln Rituale, wie Kalorienzählen, langsames Essen, Kleinschneiden der Nahrung. Manche führen ein Erbrechen herbei, um noch mehr Gewicht zu verlieren, und/oder betreiben extrem viel Sport. Gewicht und Figur haben einen hohen Einfluss auf den Selbstwert.
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