Die Diskussionen laufen seit Jahren, nehmen derzeit aber an Schärfe zu: Ist der klassische Innovationsbegriff in der Medizin mit „immer mehr“ und „immer besser“ noch aufrechtzuerhalten? Befindet sich die Pharmaindustrie wirklich in einer Krise? Wo bleibt die Ethik, wo der Patient mit seinen Interessen? Die Ärzte Krone holte die Meinungen maßgeblicher österreichischer Experten ein.
Sozusagen mit der Pharmaindustrie „angelegt“ hat sich seit Jahren Priv.-Doz. Dr. Claudia Wild, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment (HTA), Wien. Sie sieht einen Umbruch im Bewusstsein, was Neuerungen in der Medizin betrifft: „Erstmals wird der Innovationsbegriff selbst reflektiert. Da gibt es den quantitativen Fortschritt, ein immer Mehr an neuen Leistungen, kleinen Schrittinnovationen bei Produkten und Leistungen – und dann gibt es einen qualitativen Fortschritt mit bedarfsgerechter Verteilung der Leistungen, den Blick auf einen sozialen Zugang, Adhärenz, Arbeit mit dem Gegebenen, aber mit einem besseren Ergebnis.“
Während solche Gedanken von HTA-Vertretern in den vergangenen 25 Jahren immer wieder formuliert wurden, scheinen laut der Wiener Expertin solche Überlegungen auch zunehmend von Teilen der Ärzteschaft, zum Beispiel von Ärztegesellschaften in angelsächsischen Ländern übernommen zu werden: „Wir haben einen extremen Überfluss in der Medizin. Wir haben Überdiagnosen und Überbehandlung. Hingegen gibt es schon eine ‚Slow Medicine‘-Bewegung. Man spricht in Grass-root-Bewegungen von Disinvestment, von ‚Choosing Wisely‘, von End-of-Life-Decisions statt von maximalem Einsatz aller möglichen Diagnose- und Therapiemittel bis zum Ende des Lebens.“
In anderen Ländern finde auch bei Ärzten bereits ein Umdenken statt, so Wild: „Damit beschäftigen sich bereits US-Ärztefachgesellschaften, ebenso in Kanada. Und im September dieses Jahres findet in Oxford in Großbritannien eine Konferenz der Abteilung für Primary Health Care der dortigen Universität zum Thema ‚Preventing Overdiagnoses‘ statt.“ Diese Bewegung werde sich unter dem Titel knapper Finanzmittel und eines „in die Knie gehenden Systems“ nur noch verstärken.
Keine Rede davon, so Dr. Robin Rumler, Präsident des Verbandes der österreichischen Pharmaindustrie (Pharmig): „Wir befinden uns definitiv in einer Umbruchphase. Aber in unserem hochentwickelten Land erreichen wir derzeit bereits ‚problemlos‘ ein Alter von 80+. In der Zukunft geht es um 90+ und älter. Natürlich bedeutet das neue Herausforderungen, auch für die Pharmaindustrie. Sie betreffen für diese Altersgruppen spezifische Erkrankungen. Das sind Tumorerkrankungen, die Vorsorge und Behandlung von Infektionen im hohen Alter, die neuropsychiatrischen Erkrankungen und vieles Mehr.“ Darauf gelte es für Medizin und Pharmaindustrie, die geeigneten Lösungen zu finden.
Der Pharmig-Präsident: „Wir müssen forschen, um den Diabetes in den Griff zu bekommen, um Morbus Alzheimer in den Griff zu bekommen, wo die Erkrankungszahlen exponenziell ansteigen.“ Wirksame Behandlungsstrategien würden gerade hier enorme drohende Kosten im Gesundheits- und Sozialwesen ersparen helfen.
Ganz anders sieht das die HTA-Expertin: „Die Pharmaindustrie ist in der Krise. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat festgestellt, dass 50% der Zulassungsanträge scheitern. Weitere 20% werden von den Kostenträgern abgelehnt. Nur 30% zeigen Zusatznutzen – und pro Jahr gibt es nur fünf bis acht Produktinnovationen.“
Doch gerade diese Zahlen sind offenbar umstritten. Rumler: „Erst im vergangenen Jahr sind 81 neue Arzneimittel zugelassen worden. 38 davon waren Medikamente mit vollkommen neuen Wirkstoffen. In der Onkologie hatte eine Frau mit der Diagnose ‚Brustkrebs‘ im metastasierten Stadium früher eine durchschnittliche Lebenserwartung von 22 Monaten. Jetzt sind es im Durchschnitt 58 Monate. Das ist gelungen, weil neue Arzneimittel auf den Markt gekommen sind. Und das dauert jeweils zehn bis zwölf Jahre und kostet mittlerweile bereits bis zu 1,5 Milliarden Euro.“ Am Innovationswillen der Industrie sei keineswegs zu zweifeln.
Wild zitierte Ergebnisse des eigenen Programms für Onkologika: „Nur 25% bringen eine Verlängerung der durchschnittlichen Überlebenszeit um mehr als drei Monate.“
Wenn schon die Onkologie angesprochen ist – dazu hat Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinski, Chef der Universitätsklinik für Innere Medizin I der MedUni Wien im AKH eine ganz dezidierte Meinung: „Wenn unser Gesellschaftssystem zugrunde geht, dann tut es das nicht wegen der Medizin oder dem Sozialsystem, sondern wegen der Entfesselung des Neoliberalismus, die erst im Ansatz in solchen Symptomen wie dem Zusammenbruch von Lehman oder in Österreich der bekannten Bank im Süden ihren Ausdruck findet.“
Die Menschen seien die Leidtragenden. Zielinski: „Als falsche Konsequenz daraus wird dann den Steuerzahlern, die diese Entfesselung finanzieren dürfen, auch noch Diagnostik und Therapie versagt, und der ‚kleine Mann‘ dadurch wird auf vielfache Weise zum vollendeten Opfer eines irrsinnig gewordenen Systems degradiert.“
Für den Wiener Ethiker Priv.-Doz. Univ.-Lektor Dr. Andreas Klein stellt die zunehmende Ökonomisierung von Medizin und Gesundheitswesen eine Gefahr für Menschen dar: „Die Anmerkungen – so auch jene von Frau Dr. Wild – bleiben äußerst vage und unpräzise. Man gewinnt den Eindruck, dass es hauptsächlich um Sparen und Einschränken geht. Das Stichwort ‚Mensch‘ kommt hingegen bei Frau Dr. Wild nicht vor. Aber gerade der bedürftige Mensch steht im Zentrum des Gesundheitswesens. Health Technology Assessment landet häufig schnell bei Restriktionen und offenbar auch bei Generalvorwürfen gegen die Pharmaindustrie.“
Eine ethische Auseinandersetzung mit den anstehenden Problemen findet dabei kaum statt. Klein: „Ethische Prinzipien des ‚Nichtschadens‘, der Fürsorge bzw. des Wohltuns und der Selbstbestimmung tauchen kaum auf. Lediglich ein Unteraspekt des Prinzips der Gerechtigkeit wird verhandelt. Es geht dafür aber ganz schnell um Ökonomie.“ Natürlich muss jeweils abgewogen werden, welche Diagnose- und Behandlungsschritte zu welchem Zeitpunkt ausreichend, zweckmäßig und notwendig sind (§ 133 ASVG). Wirtschaftlichkeit ist ein durchaus wichtiger ethischer Aspekt, aber gerade im Gesundheitsbereich stets dem Wohl des Menschen nachgereiht.
Der Ethiker: „Fragen der Ressourcenverteilung müssen natürlich unvoreingenommen diskutiert werden. Aber man sollte Begriffe wie ‚Slow Medicine‘ und ‚End-of-Life-Decisions‘ zunächst einmal klären und ethisch reflektieren, statt sie sofort ökonomisch zu verwerten. Es sollte auch offen dazugesagt werden, was man damit beabsichtigen möchte.“
Wild kritisierte deshalb auch die von Analytikern ausgemachte Gegenstrategie der Pharmaindustrie: „Die EU-DG Competition hat Ende November 2008 festgestellt, dass die Originalhersteller als Gegenstrategie eine ganze ‚Tool Box‘ an Mitteln benutzen, um Mitbewerber und Generikahersteller zu behindern. Sie setzen auf Direct Marketing, Patienten-Lobbyismus und Awareness-Lobbyismus. Und schließlich sollen die ‚Orphan Drugs‘ als ‚Niche-Busters‘ fungieren.“
Das Gesundheitswesen und die Kostenträger würden in Zukunft aber besser auf andere Strategien als bisher setzen, um Überinvestment, Überdiagnosen und Überbehandlung sowie einer Spirale noch gesteigerter Aufwendungen entgegenzutreten.
Die HTA-Institutschefin: „Man wird sich an der realen Effektivität von Arzneimitteln orientieren. Nach den klinischen Studien und der Zulassung könnten Studien in der realen Welt angeordnet und der Kostenersatz an wirklich erzielten Behandlungserfolge gebunden werden. Gleichzeitig wird die Lebensqualität der Patienten mehr Gewicht bekommen.“
Das ruft Widerspruch hervor. Klein: „Gerade die Pharmaindustrie hat sich in den vergangenen Jahren sehr viele Gedanken über Transparenz gemacht. Natürlich ist das immer verbesserungsfähig. Jeder muss schon für sich selbst für Transparenz sorgen, auch Health Technology Assessment.“ HTA- und Ökonomie-Analysen seien oft kaum nachvollziehbar.