Wird das Kind mit dem Bad ausgegossen? Der akademische Vertreter der Allgemeinmedizin, Univ.-Prof. Dr. Manfred Maier, mahnt, zwischen schlecht formulierten Rahmenbedingungen und dem international bewährten und evidenzbasierten Modell von PHC-Teams zu differenzieren.
Mit dem „PHC MedizinMariahilf“ ging im Mai 2015 in Wien das erste Pilotprojekt eines Primärversorgungszentrums in Betrieb. 2016 soll in Enns in Oberösterreich ein weiteres Pilotprojekt starten. Die Implementierung dieser Zentren folgt dem „Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung“, das am 30. Juni 2014 mit dem Titel „Das Team rund um den Hausarzt“ von der Bundes-Zielsteuerungskommission (zusammengesetzt aus Bund, Ländern und Sozialversicherung) beschlossen und vorgelegt wurde.1 Im April 2015 haben die Landesgesundheitsreferenten dann den Entschluss zu einem PHC-Gesetz gefasst. Soweit die Vorgeschichte.
Am 20. August 2015 hat das Bundesministerium die „Punktation“ für ein entsprechendes Gesetz, das die rechtlichen Rahmenbedingungen regeln soll, präsentiert und die Fertigstellung eines entsprechenden Gesetzesentwurfes angekündigt.
Seither gehen die Wogen hoch. Zwar liegt bis auf Weiteres noch immer kein konkreter Gesetzesentwurf vor. Die in Aussicht gestellten rechtlichen Rahmenbedingungen, die von den im Konzept zur Primärversorgung (2014) beschriebenen erheblich abweichen, haben die Standespolitiker auf die Barrikaden getrieben (die Drohungen reichen bis zur Kündigung des Gesamtvertrages mit den Gebietskrankenkassen), zu hitzigen Diskussionen mit einer Reihe von Reaktionen und Gegenreaktionen geführt und das Konzept der Primärversorgungszentren als solches wieder ins Schwanken gebracht.
In einem offenen Brief an die Gesundheitsministerin, an den Präsidenten der Ärztekammer und an den Hauptverbandsvorsitzenden hat nun Univ.-Prof. Dr. Manfred Maier, Leiter der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin der medizinischen Universität Wien, die rasche Umsetzung eines Gesamtkonzeptes für eine zeitgemäße Primärversorgung gefordert und an alle Beteiligten appelliert, zu einer neuen Kultur der sachorientierten Kommunikation zu finden.2 Er sieht dringenden Handlungsbedarf, die Primärversorgung aufzuwerten. „Die Realität sieht jedoch anders aus.“ Unter anderem kritisiert er, dass das auf dem international anerkannten evidenzbasierten Modell der Primary-Health-Care-Teams aufbauende Konsensuspapier der Bundes-Zielsteuerungskommission vielfach missverständlich und beliebig zugunsten eigener Interessen interpretiert werde.
Die Ärzte Krone sprach mit Univ.-Prof. Dr. Manfred Maier über den Etikettenschwindel bei der Planung von PHC-Zentren und die notwendige Differenzierung zwischen PHC-Modell und den zu kritisierenden Gesetzesvorschlägen für deren Umsetzung.
Manfred Maier: Es geht vor allem um die Begriffe und Formulierungen, die derzeit so verwendet werden, wie sie am besten in die jeweiligen politischen oder standespolitischen Überlegungen passen. Insbesondere um den Begriff des international anerkannten evidenzbasierten Modells von Primary-Health-Care-Teams. Es wird derzeit unter dem Namen Primary-Health-Care-Zentrum etwas verstanden, was im Grunde etwas ganz anderes ist.
Konkretes Beispiel ist die Situation in Wien, wo zwei sogenannte PHC-Zentren geplant waren, das eine in Wien Mariahilf, das andere vor den Toren des SMZ Ost-Donauspitals. Beides sind keine Primary-Health-Care-Zentren im eigentlichen Sinn. Schon gar nicht jenes vor dem SMZ Ost, denn dieses wäre nichts anderes als ein Triage-Zentrum zur Entlastung der Ambulanzen, das mit den Aufgaben eines PHC-Teams so gut wie nichts gemein hätte.
Das bereits eröffnete Zentrum MedizinMariahilf ist zwar ein zaghafter Schritt in die richtige Richtung, ist aus meiner Sicht aber derzeit auch nur eine etwas aufgerüstete Gruppenpraxis. Es ist noch weit weg von dem, was ein PHC-Team sein und tun sollte, so wie es in der Literatur beschrieben, im Ausland erprobt und auch im Konsenspapier vom Juni 2014 weitgehend vorgesehen ist.
Es geht um ein wirklich multidisziplinäres, interprofessionelles Team mit deutlich erweiterten Betreuungsaufgaben für die Patienten vor Ort und einer damit verbundenen koordinierten Aufgabenteilung, wer was und in welcher Situation und in welchem Stadium einer Erkrankung am besten macht.
Meines Wissens gibt es in Österreich derzeit ein einziges Konzept für ein derartiges Zentrum, das diese Definition erfüllt: das ist das in Enns in Oberösterreich.
Was mir fehlt, ist, dass differenziert wird zwischen einerseits dem Modell, das evidenzbasiert ist, dem alle im Konsens zugestimmt haben und das es wert ist, auch in Österreich ausprobiert zu werden, und andererseits dem Entwurf für Implementierungsmaßnahmen, die ungeschickt formuliert sind und viele Punkte enthalten, die einfach zum Widerstand auffordern müssen.
Es geht um das Modell, das gut ist, und um die Begleitmaßnahmen, die für die Implementierung als notwendig erachtet werden. Das sind zwei Paar Schuhe.
Natürlich teile ich Bedenken an den rechtlichen Rahmenbedingungen, die im Zusammenhang mit dieser Punktation bis jetzt bekannt sind. Ich verstehe die Kritik an jenen Absichten, mit denen der Gesamtvertrag unterlaufen wird etc. Das ist nicht akzeptabel.
Was mich jedoch stört, ist, dass alles in einem Aufwaschen verurteilt und auch das Modell, dem alle zugestimmt haben, auf einmal abgelehnt wird und der Status quo der Primärversorgung in Österreich, wie er schon seit Jahrzehnten zu Recht kritisiert wurde, wieder als gut dargestellt wird.
Ich bin kein Rechtsexperte, aber ich verstehe nicht, warum es jetzt ein Gesetz braucht, wenn sowieso geplant ist, jedes dieser Pilotmodelle zunächst zu evaluieren, um daraus zu lernen. Momentan dient die Punktation zu diesem Gesetz genau dazu, die Umsetzung des Modells zu verhindern.