Aus irgendeinem Grund werden in Österreich weit verbreitet Primärversorgungszentren für die Primärversorgung schlechthin gehalten – unseren Erklärungen und Bemühungen zum Trotz“, ärgert sich Dr.in Susanne Rabady, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM).
„Es gibt eine international gültige Definition für die Primärversorgung, und da geht es nicht um Häuser, sondern da geht es um Versorgungsqualität, unabhängig von der Organisationsform.“ Es gehe darum, dass Primärversorgung die primäre Kontaktstelle ist – „und damit meine ich nicht nur die Erstversorgung“. Das werde oft verwechselt. Rabady: „Die Primärversorgung meint die Basisebene der Versorgung. Dort gehen die Patient:innen zuallererst hin – zu Generalist:innen und erst dann zu Spezialist:innen. Es geht aber genauso – und das ist zentral in der internationalen Definition – um die Kontinuität der Behandlung und der Betreuung., also um eine Consultingfunktion, wie sie in vielen Ländern auch erfolgreich gesehen wird.“
Man wisse aus der Forschung und aus wirklich sehr vielen Studien, dass Mortalität und Morbidität sinken, wenn der allergrößte Anteil der Kontakte mit derselben persönlichen ärztlichen Ansprechperson erfolgt. Es gehe also nicht um die institutionelle, sondern in der Tat um die persönliche Kontinuität.
Ein weiteres Kriterium seien die fachliche Breite und der generalistische Anspruch. „Dieses generalistische Element umfasst natürlich die medizinische, aber genauso die psychosoziale Kompetenz. Es umfasst aber auch die Kooperation mit Gesundheitsberufen, mit Sozialarbeit und etlichen anderen Berufsgruppen. Einen Teil von diesen Kriterien erfüllen alle Primärversorgungszentren, einen Teil davon aber nicht“, sagt die ÖGAM-Präsidentin und allgemeinmedizinische Kassenärztin. Das gelte ebenso für Einzelpraxen und für Gruppenpraxen in den unterschiedlichen Varianten. „Es gibt keine Automatik der Organisationsform, die sozusagen mehr oder minder die komplette Definition von vornherein erfüllt. Die größeren Praxen haben große Schwierigkeiten mit der Kontinuität, einige haben da sogar ziemlich wenig Ehrgeiz in Unkenntnis der Definition. Kleinere Praxen haben dafür häufig Schwierigkeiten mit der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit.“
Die ÖGAM zeichnet deshalb nun Praxen aus, die sich der hausärztlichen Primärversorgung verpflichtet fühlen und ihre Praxen dementsprechend organisiert haben. Rabady: „Die Kriterien für den Erhalt dieses Praxissiegels bauen genau auf der internationalen Definition der Primärversorgung – der Allgemein- und Familienmedizin – auf.“ Das Siegel wird unabhängig von der Organisationsform vergeben, es gilt für Einarztpraxen, für alle Varianten von Kooperationsmodellen und für PVE. Rabady: „Das Praxissiegel macht zum einen sichtbar, was in wie vielen Organisationsstrukturen an hochqualitativer Arbeit geleistet wird. Zum anderen bietet das Praxissiegel einen Anreiz. Das Ziel ist es, sichtbar zu machen, wo man vielleicht noch etwas verbessern kann, wo man bisher noch nicht so gut hingeschaut hat, wo man vielleicht auch gar nicht so das Bewusstsein über diese Anteile in der Definition der Primärversorgung hatte. Vor allem drückt es aber Wertschätzung aus, also Achtung und Respekt vor der Leistung der Kolleg:innen, die für sie oft mit großen Herausforderungen verbunden ist.“ Die ausgezeichneten Praxen werden in die Primärversorgungskarte Österreichs eingetragen. „Dies hat den Zusatznutzen, dass interessierte Kolleg:innen bei einer Umstellung ihrer Praxisorganisation Anregung und Unterstützung finden können: durch Informationen, Ideen und Erfahrungen.“
„Der ‚Nutzen‘ von Gütesiegel der ÖGAM ist eine Anerkennung und Wertschätzung meiner Tätigkeit, ausgestellt von einer Gesellschaft, die das auch beurteilen kann“, sagt Allgemeinmediziner Dr. Georg Kurtz aus Gleisdorf (siehe unten). Ihm gefällt die Art, hausärztliche Medizin zu betreiben, die als Erstanlaufstelle für medizinische Anliegen „von der Wiege bis zur Bahre zur Verfügung steht und in der ich das, was ich gelernt habe, anbieten und anwenden kann, um Patient:innen einen unnötigen Weg ins Spital zu ersparen. Dazu gehören manchmal auch aufwändige Dinge und solche, die im Honorarkatalog nicht entsprechend oder gar nicht abgebildet sind.“
Das Praxissiegel bedeutet für uns, dass wir die Voraussetzungen erfüllen, die eine gute Primärversorgung bieten sollte: die verbindlichen Versorgung aller Patient:innen unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Status im solidarischen Gesundheitssystem, die Kontinuität in einer umfassenden, kontextbasierten Versorgung und die interprofessionelle Zusammenarbeit innerhalb der Ordination sowie kooperierend mit multiplen Professionen außerhalb der Ordination auch im Sinne der Koordination. Ziel für uns ist die bestmögliche Patientenversorgungsqualität.
Gruppenpraxis Dr.in Stephanie Poggenburg und Dr.in Julia Schirgi, Hart bei Graz
Qualität besteht – unabhängig von der Organisationsform.
Ich sehe die Verleihung des ÖGAM-Praxissiegels an die „Hausärzte Enns“ als Auszeichnung und Wertschätzung unserer Teamarbeit. Es stellt österreichweit einen sichtbaren Beweis für umfassende Versorgung dar.
Unsere hervorragende Arbeit muss für Patient:innen nach außen hin sofort erkennbar sein – das stärkt das Vertrauen und die Compliance. Gerne stehen wir Kolleg:innen, die das ÖGAM-Praxissiegel erlangen wollen, helfend zur Seite.“
Dr.in Silke Eichner, PVZ „Die Hausärzte Enns“
Das ÖGAM-Siegel zeigt mir, dass diese Form der Primary Health Care gewürdigt wird. Das freut mich wirklich, weil ich von der Bedeutung der guten hausärztlichen Erstversorgung überzeugt bin. Es soll eine Motivation für alle allgemeinmedizinisch Tätigen werden, die erworbenen Kenntnisse anzuwenden, auch wenn es „sich nicht auszahlt“. Die Dankbarkeit eines/einer Patient:in, der/die sich den Weg ins Spital erspart hat, ist ein sehr bedeutender Grund!
Dr. Georg Kurtz, Gleisdorf