Univ.-Prof. Dr. Berger: In Anbetracht der erwähnten Tatsachen kann man diese Frage nur mit Nein beantworten. Das liegt einerseits daran, dass in der breiten Öffentlichkeit die Funktionen unseres Nervensystems und das Wissen darüber, womit sich die Neurologie beschäftigt, nicht ausreichend bekannt ist, andererseits wurden auch bei der internationalen Krankheitskodierung viele neurologische Erkrankungen bislang gar nicht der Neurologie zugeteilt. Erst seit Beginn dieses Jahres und dem Inkrafttreten der ICD-11 der WHO wurde beispielsweise der Schlaganfall der Neurologie zugeordnet.
Die ÖGN hat in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Schlaganfallforschung an mehreren Schrauben gleichzeitig gedreht, um diese Situation über die letzten Jahre erheblich zu verbessern. Mit dem Slogan „Time is brain“ wurde gerade beim Schlaganfall viel Awareness in der Öffentlichkeit betrieben. Die Bevölkerung und Ersthelfer wurden informiert und darauf geschult, einen potenziellen Schlaganfall zu erkennen, mit dem Ziel, die Prähospitalisierungsphase zu verkürzen. Gleichzeitig wurde mittlerweile eine Versorgungsstruktur etabliert, an der sich andere europäische Länder messen: So gibt es an allen neurologischen Abteilungen auch eine Stroke Unit, die von jedem Punkt des Landes in weniger als 30 bis 60 Minuten erreicht werden kann. Im Spital zählt dann die „door to needle time“: also die kritische Zeit bis zur Akuttherapie mit Lyse oder auch – in engster ausgezeichneter Kooperation mit der interventionellen Radiologie – gegebenenfalls Thrombektomie, die im internationalen Vergleich sehr kurz ist. Durch diese Maßnahmen konnten die Folgen, inklusive Mortalität des Schlaganfalls, in den vergangenen Jahren deutlich verringert werden.
Dieser Umstand ist weder den Neurolog:innen noch den Allgemeinmediziner:innen recht und spiegelt auch nicht die Realität des Alltags wider: ein großer Teil der Patient:innen, die in die Allgemeinmedizinpraxis kommen, hat eine neurologische Beschwerde wie etwa Kopfschmerzen oder Schwindel. Viele Mediziner:innen haben aufgrund ihrer langjährigen Berufserfahrung autodidaktisch einen guten Umgang mit neurologischen Beschwerdebildern entwickelt. Bei der jungen Generation kommt es hingegen auf die jeweilige Ausbildungsstätte an, wie viel Kenntnisse sie zu neurologischen Erkrankungen auf ihrem Ausbildungsweg mitbekommen.
Aus der amerikanischen Literatur kennen wir den Begriff „Neurophobia“. In den vergangenen Jahrzehnten gab es in den USA Schwierigkeiten, Mediziner:innen für die Neurologie zu begeistern – aus verständlichen Gründen: im Studium ist oder war Neurologie oft nur ein „Randgebiet“, noch dazu ein kompliziertes, dazu kam, dass bis vor etwa 20 Jahren das Fach von vielen chronischen Erkrankungen mit nur mäßig guten Therapiemöglichkeiten geprägt war – und das waren natürlich für angehende Ärzt:innen mitunter frustrierende Aussichten. Als ich in der Neurologie angefangen habe, gab es beispielsweise für Multiple Sklerose keine Therapie, und wir mussten nahezu untätig dabei zusehen, wie sich unsere Patient:innen verschlechterten. Mittlerweile gibt es moderne frühe diagnostische Möglichkeiten, außerdem wurden bislang 18 krankheitsmodifizierende Therapien der MS zugelassen, und die Prognose hat sich dramatisch verbessert. Vergleichbare Fortschritte gab es bei praktisch allen neurologischen Erkrankungen. Hinsichtlich rasanter medizinischer Weiterentwicklungen in den Bereichen Diagnostik, Therapie, Prävention und insgesamt personalisierter Medizin gehört die Neurologie aktuell zu den Top-Fächern.
Jede neurologische Erkrankung durchlief ihre eigene Entwicklung. Beispielhaft möchte ich die besonders dramatischen Erfolge bei bestimmten neuropädiatrischen Erkrankungen wie der spinalen Muskelatrophie oder der Duchenne-Muskeldystrophie nennen – dies sind beides genetisch bedingte Erkrankungen. Durch die Identifizierung des jeweils krankheitsverursachenden Gens und mit Hilfe modernster genetischer Methoden wurden erstmals spezifische Gentherapien entwickelt. Werden diese bereits bei Neugeborenen angewendet, können die Kinder, die vormals verstorben sind, eine normale Entwicklung durchmachen. Wirksame Therapien führen aber nicht nur zur besseren Behandelbarkeit, sie sind auch das Vehikel für die Awareness einer Erkrankung: Wenn ich etwas dagegen tun kann, dann bekommt die Krankheit mehr Aufmerksamkeit, was wiederum dazu führt, dass die Diagnosen früher gestellt werden.
Der Antikörper Aducanumab hat in den USA die Zulassung für „mild cognitive impairment“ erhalten und zeigte in den Studien einen guten Effekt auf den sehr rationalen Surrogatendpunkt. Die europäische Arzneimittelbehörde möchte hingegen noch weitere Daten zur klinischen Wirksamkeit abwarten. Diese oder eine der anderen Therapien, die derzeit in der Pipeline sind, werden aber früher oder später auch in Europa zur lang ersehnten Anwendung kommen. Sobald eine kausale Therapie verfügbar ist, werden verständlicherweise auch viele Menschen mit einem „subjective cognitive impairment“ eine diagnostische Abklärung suchen. Das wird alle bestehenden neurologischen Einrichtungen vor eine enorme logistische Herausforderung stellen, und wir werden Formen der gestuften Abklärung entwickeln müssen, beispielsweise valide Screening-Methoden.
Die Neurologie ist mit COVID-19 auf mehreren Ebenen gleichzeitig konfrontiert: den neurologischen Komplikationen im Rahmen der Infektion, den Intensivaufenthalten mit teils schwerer organischer und auch neurologischer Beteiligung sowie mit den Langzeitkomplikatio-nen. Während erstere – etwa Geruchs- und Geschmackstörungen – zum Glück großteils transient und zweitere selten sind, gibt uns Long-COVID weiterhin Rätsel auf. Hier kommt es nach Genesung zum Auftreten von Symptomen wie Müdigkeit, Erschöpfbarkeit, subjektiv kognitive Störungen, Schlafstörungen und autonome Störungen, wie etwa Hypotonie. Pessimistische – und derzeit auch noch nicht evidenzbasierte – Annahmen sprechen von bis zu 30 % der Genesenen, die angeblich Long-COVID entwickeln. Doch selbst, wenn es nur 10 % wären, entspräche das in Österreich mittlerweile 240.000 Betroffenen! Die Aufgabe, die sich uns hier stellt, ist es, herauszufinden, ob es sich tatsächlich um Long-COVID handelt oder ob eventuell nur ein zeitlicher Zusammenhang mit dem Auftreten einer anderen neurologischen Erkrankung besteht. Darüber hinaus können die Symptome auch psychosomatisch bedingt sein.