Im Diagnosesektor ist das Neueste, dass das DSM-5 in Vorbereitung ist. Leider wird es nicht die ganz große Umwälzung bei den Diagnosen bringen, wie erhofft, nämlich dass eine multidimensionale oder zumindest dimensionale Diagnostik entwickelt wird. Es wird also weitgehend eine kategoriale Diagnostik bleiben, so wie das auch schon das DSM-4 ist. Einige Diagnosekriterien werden etwas verändert, aber das wird nicht allzu viel sein. Es ist zu erwarten, dass 2013 das DSM-5 kommt. Das heißt, 2016 oder 2017 werden dann die ICD-11 kommen, die dem DSM-5 ziemlich ähnlich sein werden.
Die größten Entwicklungen gibt es auf dem Suchtsektor. Zum einen wird die Glückspielsucht – und leider nur diese – als Sucht-erkrankung bewertet und aus der Gruppe der Impulskontrollstörungen herausgelöst. Leider werden alle anderen „behavioural addictions“ (stoffungebundene Suchtformen), wie etwa die Kaufsucht, die Onlinesucht und auch die Arbeitssucht nicht aufgenommen. Das wäre wünschenswert gewesen, aber es gibt noch zu wenige „evidenzbasierte“ Studien hierzu, das DSM-5 basiert aber komplett auf den bisherigen Untersuchungen.
Die zweite sehr positiv zu bewertende Neuerung ist, dass die Suchterkrankungsdiagnostik sich nicht mehr nur auf die Spätstadien konzentriert, so wie wir es jetzt kennen, sondern auch schon die Frühstadien als Krankheit mit einbezogen werden. Das, was also früher ein Abusus war, wird jetzt auch als Frühstadium zur Alkoholsucht gewertet. Das ist ein Meilenstein in der Diagnostik, weil es damit das erste Mal gelingen wird, nicht nur die Krankheit früh zu diagnostizieren, sondern auch früh zu intervenieren.
In diesem Zusammenhang ist die neue Substanz Nalmefene von besonderer Bedeutung, die den Alkoholkonsum reduziert. Bei Menschen, die bereits schwerabhängig sind, bringt eine Reduktion nichts, außer sie schaffen es nicht, abstinent zu werden. Dann bringt die Verringerung zumindest eine geringere körperliche Schädigung mit sich. Direkt als Therapeutikum hat die Substanz in diesen Stadien aber wenig Bedeutung. In den Frühstadien hingegen, wo man sich auch noch ein moderates Trinken als Therapieziel setzen kann, wird es eine entsprechende Einsatzmöglichkeit geben.
Im therapeutischen Bereich gibt es nach den großen Neuerungen vor 20, 30 Jahren, als eine Fülle neuer Medikamente auf den Markt kam, mit denen man z.B. Depressionen differenziert behandeln konnte, und wo es plötzlich ganz unterschiedliche antipsychotische Substanzen gab, wenig Neues. Das ist bedrückend, weil es doch zeigt, dass die Firmen in diesem Bereich nicht mehr genug investieren. Die restriktiven Verschreibungsmöglichkeiten, wie sie auch in Österreich gegeben sind, haben sicher dazu beigetragen. Eine Ausnahme sind die Antidementiva, wo das größte Entwicklungspotenzial zu finden ist.
Ein großes Umdenken gibt es seit den letzten fünf Jahren insofern, als man von einer strikten Auffassung der evidenzbasierten Medizin doch auch wieder zu einer menschenorientierten Medizin kommt; Schlagwort: „human-based medicine“. Das ist eine sehr zu begrüßende Entwicklung, und zwar nicht als Aufgabe der evidenzbasierten Medizin, aber das strikte Festhalten an dieser hat zu einer extremen Einengung der therapeutischen Möglichkeiten geführt.
Eine weitere Entwicklung, die in Österreich bisher nur punktuell sichtbar ist, ist die insgesamt wieder engere Zusammenarbeit der Medizin mit den Humanwissenschaften. Bei „medical humanities“, wie sie in den USA schon weit fortgeschritten und auch in der Schweiz und in Italien schon zu finden sind, geht es darum, den Umgang mit Patienten zu hinterfragen und zu verbessern, um Themen wie Gastfreundschaft oder Attraktivität der Behandlung also. Das ist ein sehr wesentlicher Fortschritt, und es werden noch sehr viele Impulse auf uns zukommen.
Ein großer Schritt wird auch im Bereich der ressourcenorientierten Diagnostik und Therapie vollzogen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie setzt sich schon länger mit Ressourcen auseinander, auch in der rehabilitativen Medizin musste man sich damit natürlich beschäftigen. In der Erwachsenenpsychiatrie gab es schon immer Versuche, aber keine durchgehenden Konzepte. Das wird nun gerade bei chronischen Krankheitsbildern die Zukunft sein. Denn die Ressourcen sind letztlich der entscheidende Punkt, wie jemand mit seiner Erkrankung umgehen kann. Das spielt natürlich auch in der Suchttherapie eine sehr große Rolle.
Der letzte Punkt ist, dass wir wieder zu einer individualisierten Therapie kommen, wie es derzeit nur in der Suchtbehandlung gemacht wird. Das hängt natürlich mit dem ressourcenorientierten Ansatz zusammen, weil die Ressourcen einfach ungleich verteilt sind. Man kommt also von der Kohortenmedizin, wo vorzugsweise Krankheitskonstrukte und damit Patienten so behandelt werden, als ob sie alle gleich wären, wieder zu individualisierten Modellen. Kohortenstudien dienen jedoch weiterhin als Basis der Behandlung.