„‚Psychisch krank‘ bezeichnet eine grundlegende Veränderung des Denkens, Fühlens oder Wollens eines Menschen, welche in der Regel von der Umgebung und vom Individuum selbst als sozial einschränkend empfunden wird. ‚Psychisch krank‘ ist genauso wie ‚körperlich krank‘ nur durch Definition von ‚psychisch gesund‘ und ‚körperlich gesund‘ abgrenzbar“, so Univ.-Prof. DDr. Gabriele Sachs am ersten Lundbeck Presseforum Psychiatrie. Bei Bluthochdruck zum Beispiel sei es eindeutig, dass 120/80 mmHg „gesund“ und 220/140 mmHg „krank“ ist. Dazwischen aber gäbe es ein Kontinuum, in dem jeder Wert möglich sei, erläuterte die ärztliche Direktorin der Oberösterreichischen Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg. „Möchte man eine Schwelle konstruieren, welche ‚gesund‘ und ‚krank‘ unterscheidet, so ist diese künstlich und unterliegt wechselnden Definitionen. Psychische Störungen sind in der Regel ebenfalls so einzustufen: Eine schwerste Depression ist erkennbar ‚krank‘; die Schwelle allerdings zwischen einer sehr leichten, aber noch ‚kranken‘ Depression und einer ‚gesunden‘ Verstimmung ist genauso künstlich und definitionsabhängig wie beim Bluthochdruck“, so Sachs.
Dass psychische Erkrankungen ebenso als Erkrankungen anzusehen seien wie körperliche, betonte Prim. Dr. Georg Psota, Chefarzt des Kuratoriums für psychosoziale Dienste in Wien. „Psychische Erkrankungen haben folgende gemeinsame Merkmale: Die Entstehungsgeschichte ist individuell vielfältig und hängt von einer Reihe innerer sowie äußerer Faktoren und deren Interaktion ab: Das Auftreten kann schleichend oder akut sein, der Verlauf episodisch, rezidivierend oder auch chronisch. Der Schweregrad ist leicht, mittel bis schwer. Psychische Erkrankungen sind relativ häufig, können alle Lebensalter betreffen und haben in den beiden Geschlechtern gewisse Betonungen. Psychische Erkrankungen sind sehr unterschiedlich, keine homogene Gruppe und haben vielfältige Auswirkungen. Das alles unterscheidet psychische Erkrankungen überhaupt nicht von den sogenannten ‚körperlichen‘ Erkrankungen.“ Trotz all dieser unübersehbaren Gemeinsamkeiten sei es aus diversen Entwicklungen heraus zu großen Divergenzen im allgemeinen Verständnis von „psychisch krank“ vs. „körperlich krank“ gekommen.
„Mit dieser irreführenden Unterscheidung eng verbunden ist ein seltsamer Makel, der dem Begriff ‚psychisch krank‘ anhängt, eine Reihe von Antizipationen und wenig Wissen über Fakten, eine der Differenzierung entgegengesetzte Verallgemeinerung und auch eine abwertende Sprache über Betroffene, Angehörige und auch professionelle Helfer. Und – man muss es erwähnen – zumindest teilweise auch eine dementsprechende Berichterstattung“, so Psota weiter. All dies macht den Betroffenen einen offenen Umgang mit der Erkrankung überaus schwierig.
Während in nicht oder weniger industrialisierten Regionen der Welt Infektionskrankheiten, Unfälle oder körperliche Kriegsfolgen an der Spitze der Burden of Disease-Werte liegen, gibt es in Ländern wie Österreich einen zunehmenden Bedeutungsschwenk hin zu psychischen Erkrankungen. Laut WHO-Prognose für 2030 für Industriestaaten wird die Unipolare Depressive Erkrankung an erster Stelle vor kardiovaskulären stehen. An dritter Stelle werden Alzheimer und andere Formen der Demenz folgen. Die Daten zur Frühpensionierung zeigten diese Entwicklung bereits ganz eindeutig, meinte Psota, über 50% der Frühpensionsfälle in bestimmten Altersgruppen gingen bereits auf das Konto psychischer Krankheitsursachen.
Psychische Erkrankungen gehörten schon jetzt in Europa zu den am häufigsten auftretenden Diagnosen, besonders im erwerbsfähigen Alter, so der Gesundheitsökonom Univ.-Prof. Dr. Bernhard Schwarz, Zentrum für Public Health der MedUni Wien: „Besonders bedeutend sind in diesem Zusammenhang affektive Erkrankungen, zu denen auch die Depression gehört, mit 10–20%, Angsterkrankungen mit 14–25%, Anpassungsstörungen, einschließlich dem sogenannten „Burn-out“, mit 20–50% und Suchterkrankungen mit einer Prävalenz von 15–27%.“
Auch in Bezug auf Krankenstandstage sind psychische Leiden ein wichtiger Faktor. Schwarz: „Die durchschnittliche Krankenstandsdauer auf Grund psychischer Erkrankungen liegt mit 40 Tagen deutlich über dem Durchschnitt von elf Tagen. Der wichtigste wirtschaftliche Faktor ist aber der Präsentismus, also die Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz eingeschränkter Gesundheit bzw. Erkrankung. Die Produktivitätsverluste durch Präsentismus betragen laut verschiedener internationaler Studien das Vier- bis Fünffache der durch Krankenstände verursachten.“ Keine Frage also, dass psychische Erkrankungen massive wirtschaftliche Auswirkungen haben. Schwarz: „Für Europa wurden die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Depressionen auf knapp 120 Milliarden Euro geschätzt; davon entfallen etwas mehr als ein Drittel auf direkte Behandlungskosten und knapp zwei Drittel auf Produktivitätsverluste.“
Psychische Erkrankungen werden als Faktor für Krankheitslast zunehmen, so viel stehe aus heutiger Sicht fest. Es sei also höchst an der Zeit, dass wir diesen Paradigmenwechsel in der Bedeutung von Erkrankungen wahrnehmen, verstehen und begreifen – und dementsprechend handeln, meinte Psota. Sachs richtet unter anderem das Augenmerk auf die Wichtigkeit der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie und hier auf die Therapiemethode der störungsspezifischen Psychotherapie. Und Gesundheitsökonom Schwarz forderte: „Zur Verbesserung der Betreuungssituation und Milderung der Konsequenzen sind umfassende Maßnahmen nötig, die alle Lebenssphären betreffen. Dazu zählen Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen, im betrieblichen Umfeld und in der Altenversorgung.“
Von ganz essenzieller Bedeutung sei aber vor allem die Entstigmatisierung psychischer Leiden. Und dazu gehören sowohl ein höherer Wissenstand zum Thema psychische Erkrankungen in der Bevölkerung, das Bewusstsein, dass psychische Erkrankungen genauso zu werten sind wie somatische und ein sensiblerer Umgang mit der Thematik in den Medien.