Konsultationen aus wie immer gearteter psychischer Ursache machen einen beträchtlichen Anteil der Beratungsanlässe in der hausärztlichen Praxis aus und einen mutmaßlich noch größeren bei den Beratungsursachen.
Einer der zentralen Vorteile der Allgemein- und Familienmedizin ist die fachliche Breite – Patient:innen kommen entweder gezielt mit einem psychischen Problem in die Praxis oder aber mit einem somatischen Anliegen als „Testballon“ und sehen, ob sie sich ausreichend angenommen und sicher genug fühlen, um auf die eigentliche Ursache ihres Besuchs zu sprechen zu kommen. Oder aber: Sie können von ihren Hausärzt:innen darauf angesprochen werden, dass es eine zugrunde liegende oder mitbeteiligte psychische Komponente für das präsentierte Problem geben könnte.
Ob das gelingt, hängt wesentlich davon ab, ob die Hausärzt:innen ein ausreichend offenes, sensibilisiertes Ohr haben und die Kompetenz, mit psychischen Problemstellungen angemessen umzugehen. Hier hakt nun das vorliegende Buch ein, wobei Buch insofern zu wenig gesagt ist, als es nicht nur den textvermittelten Zugang zu einer Reihe von Techniken bietet, sondern jeweils auch Videodemonstrationen.
Es tritt an mit dem Anspruch, bestimmte, für die Praxis geeignete psychotherapeutische Methoden zu vermitteln, die in die Aus- und Weiterbildung zu Allgemein- und Familienärzt:innen nicht ausreichend (bzw. gar nicht) integriert sind, sondern mittels (meist teurer und zeitintensiver) Zusatzausbildungen erworben werden müssen – oder eben im hausärztlichen Alltag nicht zur Verfügung stehen.
Die ausgeführten Techniken sollen als Kurzinterventionen einsetzbar sein und damit für die Hausärzt:innen befriedigenderes Arbeiten ermöglichen und Patient:innen Wartezeiten auf und Kosten für spezialisierte psychotherapeutische Behandlung ersparen. Auch die Grenzen für den Einsatz werden aufgezeigt, wo nötig, soll an dieser Stelle ebenfalls erwähnt sein.
In einem allgemeinen Teil wird zunächst auf typische Behandlungsanlässe im hausärztlichen Alltag eingegangen, es werden diagnostische Regeln und Verfahren beschrieben, die auf die spezielle hausärztliche Situation Bezug nehmen, sowie eine Reihe von Screening-Bögen zur (Differenzial-)Diagnostik angeboten. Grundlegende allgemeine therapeutische Ansätze und Haltungen werden beschrieben wie Psychoedukation und Anleitungen zum Selbstmanagement. Ein Abschnitt ist E-Mental-Health gewidmet, einer Option, die an Bedeutung gewinnt. Der spezielle Teil widmet sich in der hausärztlichen Kurzintervention grundsätzlich zugänglichen psychischen Krankheitsbildern wie den Suchterkrankungen, Depressionen, Panikstörungen, Schmerzerkrankungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, der Insomnie und dem ADHS bei Erwachsenen.
Für jedes der Krankheitsbilder werden die spezifisch hausärztlichen Aspekte beschrieben, und es wird umfassend auf die klinischen Merkmale eingegangen. Es folgen detaillierte Ausführungen zur Differenzialdiagnostik. Den Hauptteil bildet jeweils die Beschreibung von Behandlungsoptionen, wobei auf gut nachvollziehbare, sehr sorgfältige Weise die verfügbaren Techniken beschrieben werden. Die Kapitel enthalten Fallbeschreibungen und Praxistipps, welche die theoretischen Erläuterungen begleiten und erlebbar machen, und sie werden ergänzt durch eine Reihe von Videos, die über QR-Code zugänglich sind. Wenn sie nicht auf einem Hand-held-Endgerät abgespielt werden sollen, muss der Link eingegeben werden. Der jeweilige Evidenzhintergrund wird dargelegt.
Grundsätzlich löst das vorliegende Werk das im Vorwort beschriebene Versprechen ein, nämlich Hausärzt:innen Zugang zu psychotherapeutischen Methoden zu geben, die geeignet sind, das Behandlungsspektrum in der Praxis um wesentliche Bereiche zu erweitern und zu bereichern.
Wieweit es möglich ist, psychotherapeutische Techniken ohne Begleitung, ganz ohne Beobachtung und Supervision von außen zu erwerben, scheint allerdings fraglich und wird wohl – wie das auch für alle anderen diagnostischen und therapeutischen Fertigkeiten gilt– sehr von der individuellen Situation abhängen, und zwar von Talent und Interesse, von Vorbildung und von der Fähigkeit zu Selbstreflexion und Selbstkritik.
Empfehlenswert scheint jedenfalls eine begleitende Supervision oder zumindest Balintgruppe, die vor allem Letzteres unterstützen – zumindest für die ersten Umsetzungsversuche, wenn nicht ohnehin ausreichende Vorerfahrungen bestehen.
Die kritische Bewertung der eigenen Kompetenzen und das Erkennen von deren Grenzen ist jedoch immer und in jedem Aspekt Voraussetzung für eine verantwortungsvolle ärztliche Tätigkeit.
In diesem Sinne – und mit diesen Einschränkungen – sei das Buch sowohl für Berufsanfänger:innen als auch für erfahrene Kolleg:innen, die sich hinsichtlich des praktischen Umgangs mit psychischen Problemen weiterentwickeln möchten, empfohlen.