Der jährliche EURACT-Bled-Kurs, der als Ziel die (Aus-)Bildung der Lehrenden-Community für Allgemeinmedizin in Europa hat, stand heuer unter dem Motto „Renaissance in der Allgemeinmedizin“. Gewählt wurde der Titel, um eine positive Bewegung in Richtung Zukunft zu unterstreichen, nachdem wir der „dunklen pandemischen Zeit entsteigen“. Zentrale Themen waren die Herausforderungen der Pandemie und die „Lessons learned“, die auch unsere Zukunft prägen werden. Wie können wir neue Entwicklungen mit unseren ureigenen Werten des Faches Allgemein- und Familienmedizin unter einen Hut bringen? Die WONCA hat als Weiterentwicklung zur Definition der Allgemeinmedizin 2022 die Core-Values der Allgemein- und Familienmedizin veröffentlicht: Person-centered care, equity of Care, continuity of care, science oriented care, cooperation in Care, professionalism in care, community oriented care.
Diese Grundwerte treffen auf Herausforderungen, die bereits vor der Pandemie im Entstehen waren, durch die Pandemie aber Dynamik bekamen, allen voran der Aufprall – das empfanden alle Teilnehmenden aus 16 verschiedenen europäischen Nationen gleich – der technischen Entwicklung auf unsere allgemeinmedizinische Welt. Mit allen Vor-und Nachteilen. Die personenzentrierte Versorgung aller Patient:innen wurde auch dadurch Herausforderung. Nach zwei Jahren erfassen wir zunehmend das Ausmaß der Katastrophe, der gleichberechtigte Zugang zur medizinischen Versorgung leidet und die Balance zwischen technischen Hilfsmitteln und patientenorientierter Versorgung muss noch gefunden werden. Der verstärkte Einsatz von Telekonsultationen (mit und ohne Bild) hatte und hat Vorteile und Potenzial, es ist aber unsere Aufgabe, an die Nachteile dieser Medien zu denken, v. a. wenn es um den gleichberechtigten Zugang zur medizinischen Hilfe geht. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass die Online-Kommunikation mit unseren Patient:innen Vehikel – integrativer Bestandteil – der Betreuungskontinuität ist und nicht im Konflikt dazu steht. Neben der Herausforderung unter Pandemiebedingungen Patient:innen zu versorgen und unsere Professionalität hierbei zu zeigen, erleben wir jetzt eine Entwicklung, die unsere berufliche Professionalität auf einer ganz anderen, emotionalen Ebene herausfordert: die der persönlichen Betroffenheit.
Das Wesen der allgemeinmedizinischen Betreuung ist, dass wir als Expert:innen unseren Patient:innen als Expert:innen ihres eigenen Innenlebens begegnen – wir begegnen ihnen mit Vertrauensvorschuss, um in eine konstruktive Kommunikation einzutreten und gemeinsam mit ihnen die artikulierten (manchmal auch nichtartikulierten) Probleme zu lösen. Hört man sich jedoch in der Kollegenschaft um, so wird deutlich, dass gerade in diesem Bereich die Pandemie eine schwierige Entwicklung gefördert bzw. bestärkt hat: durch die Wahrnehmung des ubiquitär geforderten Erreichbar-Seins aller Menschen – rasch und unvermittelt per Handy oder unzähliger Hilfsmittel – wird dies jetzt auch von uns Ärztinnen und Ärzten verlangt, und es herrscht Unzufriedenheit, wenn wir es nicht sofort sind. Verstärkt durch den potenziell niederschwelligen Zugang, uns Nachrichten in jeglicher Form (per SMS, E-Mail, Apps o. ä.) zu hinterlassen, sind viele unserer Kolleginnen und Kollegen unter Druck geraten. Wir mussten und müssen den Umgang mit diesen Anfragen lernen, Lösungsstrategien entwickeln, wie wir in einer Vielzahl von Anfragen nicht untergehen, lernen, welche Grenzen wir ziehen und welche Grenzen da sind (wie wichtig auf einmal die korrekte Dokumentation von Patient:innenanfragen oder Nichterreichen bei Rückruf wird). Wir müssen lernen, mit allzu fordernden und zum Teil aggressiven Patient:innenanfragen umzugehen, professionell zu bleiben und nicht das generelle Vertrauen in unsere Patient:innen und die Gesellschaft zu verlieren. Einige von uns und unseren Teammitglieder:innen, aber auch Mitglieder:innen anderer Gesundheitsberufe haben in den letzten beiden Jahren vermehrt persönliche Beleidigungen, schlechte Onlinekritiken oder öffentliche Zur-Schau-Stellung privater (falscher) Details in diversen sozialen Netzwerken erlebt. Neben unserer Professionalität im Umgang damit bleibt am Ende die Tatsache bestehen, dass Bedrohungen egal wo, wie und in welcher Form kein „Kavaliersdelikt“ sind. Sicher jedoch ist auch, dass ein Teil der „Renaissance“ unseres Berufes das Verstehen und Lernen dieses geschilderten Balanceaktes ist – in einer „modernen Welt“ die Grundwerte der Allgemein- und Familienmedizin weiter zu tragen und Entwicklungen für uns zu nutzen und nicht durch ihre negativen Seiten bestimmt zu werden.