Gerhard Hubmann: Die Entstehung und Erhaltung der Gesundheit bezeichnet man als Salutogenese. Das Konzept geht auf Aaron Antonovsky zurück, der Mitte des 20. Jahrhunderts das Prinzip der Salutogenese beschrieben hat. Das Gesundheitswesen investiert derzeit alles, was intellektuell und finanziell an Kapazität verfügbar ist, in die Erforschung von Krankheitsmechanismen und in die Krankheitsbekämpfung, was natürlich wichtig ist. Es gibt aber neben der Krankheit auch die Gesundheit. Gesundheit und Krankheit sind komplexe Phänomene, die nicht nur über genetische, biologische, psychische und psychosoziale Faktoren zu erklären sind, sondern einer ganzheitlichen Denkweise bedürfen. Entsprechend dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Dieses Modell basiert darauf, dass nicht nur krankheitsfördernde Faktoren relevant sind, sondern auch alle Umstände, die die Gesundheit erhalten.
Dazu ist eine Veränderung unserer Denkweise notwendig: Wir haben immer versucht, die Krankheit zu beseitigen und zu bekämpfen, so haben wir es im Studium gelernt, so sind wir aufgewachsen. Nur gibt es in jedem Menschen auch die Gesundheit, jeder Mensch trägt sie in sich. Und darauf wird zu wenig Augenmerk gelegt. Wenn nur immer in Richtung Vertreibung der Krankheit als Ziel gedacht wird, dann vergisst man, dass man Gesundheit auch fördern kann und dass wir diese in uns tragen.
Es ist kein Gegenpol und soll auch keiner sein. Wenn Gesundheit gestärkt wird, wird automatisch der Krankheitsprozess weniger. Das ist eine andere Philosophie, wir haben beides in uns, aber wir haben den Begriff Gesundheit in den letzten Jahrzehnten zu wenig beachtet.
Ganzheitlich heißt, auch die Umwelt und das Biopsychosoziale miteinzubeziehen. Ganzheitliche Denkweise ist der Ausdruck eines Weltbildes, das den Menschen wieder als Einheit von Körper, Geist und Seele in seiner Umwelt und Beziehung zur Natur sieht. Ganzheitlich ist für mich ein holistischer, allumfassender Begriff, der immer mehrere Möglichkeiten zulässt.
Nein, überhaupt nicht. Ich sehe sie ergänzend. Wir brauchen natürlich die Medizin und wir brauchen auch Medikamente. Irgendwann, wenn die Selbstregulation versagt und der Körper so erkrankt ist, dass man nicht mehr zu diesem Prozess in Richtung Gesundheit findet, dann liegt eine Krankheit vor, und dann hat diese Krankheit das Recht, behandelt zu werden. Dazu gibt es die Medizin, Schulmedizin und Komplementärmedizin. Es gibt nur eine Medizin, es liegt in der Kompetenz des Arztes, die unterschiedlichen Möglichkeiten zusammenzuführen, zum Wohle des Patienten.
Natürlich. Die Prävention spielt in allen ganzheitlichen Ansätzen eine entscheidende Rolle. Die traditionellen Medizinsysteme, ob das tibetische, chinesische oder Ayurveda, hatten ja immer das Bestreben, den Menschen gesund zu erhalten, sei es durch Ernährung oder Lebensstil. Die hatten ja auch keine Möglichkeit, chronische Krankheiten zu behandeln! Wer chronisch krank war, ist früh gestorben. Es war daher lebensnotwendig, die Ernährung beispielsweise nach den 5 Elementen zu optimieren, die Gesundheit zu fördern …
In dem Augenblick, wo wir es ganzheitlich sehen, mit Körper, Geist und Seele, kann man natürlich Krankheiten zumindest in der Sekundär- und Tertiärprävention beeinflussen. Es ist auch schon viel erreicht, wenn wir manche Erkrankungen erst später kriegen. Wenn man bedenkt, dass Einflüsse, die zu einem gesunden Leben führen, zu 10 % genetisch bedingt sind, aber zu 35 % auf einen gesunden Lebensstil, zu 35 % auf das soziale Umfeld und nur zu etwa 20 % auf medikamentöse Interventionen zurückzuführen sind, kann man sich den Stellenwert der ganzheitlichen Denkweise besser vorstellen.
Wichtig ist mir, für den Begriff Gesundheit zu sensibilisieren. Erst wenn das gelingt, kann man sich auch mit Gesunderhaltung beschäftigen. Heute weiß jeder, was Pathogenese ist. Mein Ziel wäre, dass in 10 Jahren jeder weiß, was Salutogenese ist.