Diese Problematik wurde auf europäischer Ebene vor einigen Jahren erkannt, und seither wird an EU-weiten gemeinsamen Strukturen gearbeitet. In einem Feld, in dem die Expertise so rar ist wie die PatientInnen selbst, ist internationale Zusammenarbeit der einzig sinnvolle Lösungsansatz. Die Diagnostik und Behandlung seltener und komplexer Erkrankungen erfordert einen enorm hohen Spezialisierungsgrad, der nicht in vielen medizinischen Zentren, oft aber nicht einmal in jedem Land gegeben ist.
Seit 2017 gibt es nun die sogenannten Europäische Referenznetzwerke (ERN), die einen Zusammenschluss der besten europäischen Zentren des jeweiligen medizinischen Fachgebiets darstellen. Bisher existieren 24 derartige Netzwerke, die primär auf Basis von Telekonsultationen über besonders schwierige Fälle beraten. Dafür wurde ein spezielles telemedizinisches IT-System entwickelt, das sogenannte „Clinical Patient Management System“ (CPMS), über das grundsätzlich alle Ärztinnen und Ärzte, also auch von außerhalb der ERN, ihre besonders komplexen Fälle einbringen können (wobei hier derzeit noch datenschutzrechtliche Hürden bestehen). Andererseits ist in Fällen, wo bestimmte Leistungen nur direkt vor Ort erbracht werden können – insbesondere chirurgische Eingriffe, aber auch diagnostische Verfahren et cetera –, auch die Überweisung von PatientInnen in andere EU-Staaten notwendig.
Österreich ist über nationale Expertisezentren für seltene Erkrankungen, die an ERN als Vollmitglieder teilnehmen, sowie über Assoziierte Nationale Zentren an die Referenznetzwerke angebunden.
Expertisezentren sind hochspezialisierte klinische Einrichtungen für eine jeweils definierte Gruppe von seltenen Erkrankungen und müssen ein strukturiertes Designationsverfahren (eine Art Akkreditierungsverfahren) durchlaufen, bevor sie im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) gelistet werden. Sie sind in ihren Spezialgebieten zentrale Anlaufstellen für PatientInnen aus ganz Österreich und dienen primär der Erstdiagnostik, Therapieeinstellung und gelegentlichen Kontrollen. Sie fungieren auch als Eintrittspforte in „ihr“ ERN für jene PatientInnen, auf deren Erkrankung sie selbst nicht spezialisiert sind (ein einzelnes Expertisezentrum deckt typischerweise nur einen sehr kleinen Teilbereich des Fachgebietes eines ERN ab) oder für die Telekonsultationen erforderlich sind.
Um eine möglichst niederschwellige Kommunikation und reibungslose Schnittstellen zum niedergelassenen Bereich und zu anderen Spitälern zu gewährleisten, ist die Definition von Patienten- und Kommunikationspfaden durch das Expertisezentrum erforderlich. Einerseits muss das Zentrum die Nachbetreuung der PatientInnen nach deren Entlassung organisieren. Dies beinhaltet insbesondere konkrete Instruktionen an Hausärztinnen und Hausärzten, Spitalsambulanzen, die von den PatientInnen regelmäßig aufgesucht werden et cetera, idealerweise durch direkte persönliche Kommunikation. Umgekehrt müssen die Zentren Maßnahmen setzen, um für potenzielle Zuweiser sichtbarer und erreichbarer zu werden, beispielsweise durch spezielle Fortbildungsveranstaltungen, aber auch durch übersichtliche Websites und Präsenz in der Orphanet-Datenbank
(www.orpha.net). Dies ist besonders wichtig für praktische Ärztinnen und Ärzte, die im Gesundheitssystem als Weichensteller und Filter für die Weiterleitung an spezialisierte Einrichtungen eine zentrale Rolle einnehmen. Grundsätzlich ist die Zuweisung an ein Expertisezentrum dann, wie auch bereits bisher, von überall aus möglich, sie entspricht vom administrativen Ablauf her der Überweisung an eine Spezialambulanz einer Universitätsklinik.
Für sogenannte Assoziierte Nationale Zentren in ERN gilt hinsichtlich ihrer Funktion im Gesundheitssystem Gleiches wie für Expertisezentren, nur dass diese Einrichtungen (noch) kein nationales Designationsverfahren durchlaufen haben. Sie wurden aber vom österreichischen Gesundheitsministerium als Teilnehmer in einem ERN nominiert und können im ERN gleichermaßen mitwirken wie Vollmitglieder. Auch sie fungieren als Brücken für österreichische PatientInnen in die ERN und sind für Zuweisungen aus ganz Österreich offen. Diese spezielle, etwas formlosere Art der ERN-Mitgliedschaft existiert offiziell seit November 2019, und erfreulicherweise ist Österreich auf diese Weise in allen 24 Netzwerken durch zumindest ein Zentrum vertreten.
Links zu Orphan Diseases
Wie bereits erwähnt, sind sowohl Expertisezentren als auch assoziierte nationale Zentren für Zuweisungen aus ganz Österreich offen, in gleicher Weise wie Universitätskliniken. Sollte man einen Fall in ein ERN einbringen wollen, empfiehlt es sich, ebenfalls den Weg über ein österreichisches Mitgliedszentrum zu wählen, da die Nutzung des CPMS für Nichtmitglieder – obwohl theoretisch möglich – noch vielfach auf datenschutzrechtliche Probleme stößt. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, wenn möglichst viele Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit der Konsultation eines ERN nutzen würden, um österreichischen PatientInnen diesen nunmehr deutlich erleichterten und strukturierteren Zugang zu internationaler Expertise zu eröffnen. Aber auch die Überweisung an eines der Spezialzentren sollte durchaus niederschwellig gesehen werden: Lieber einmal zu oft überweisen beziehungsweise konsultieren, als womöglich eine sehr ungewöhnliche Erkrankung übersehen. Den einzelnen PatientInnen können dadurch jahrelange Irrwege und viel unnötiges Leid erspart werden.
Österreichische Mitglieder in Europäischen Referenznetzwerken (ERN)
ERN BOND (seltene Knochenkrankheiten)
ERN CRANIO (seltene und komplexe kraniofaziale Anomalien und Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten)
Endo-ERN (seltene endokrinologische Erkrankungen)
ERN EpiCARE (Epilepsien)
ERKNet (seltene Nierenerkrankungen)
ERN-RND (seltene neurologische Erkrankungen)
ERNICA (seltene hereditäre und kongenitale Erkrankungen des Verdauungstraktes)
ERN-LUNG (Atemwegserkrankungen)
ERN-Skin (seltene und undiagnostizierte Hautkrankheiten)
ERN EURACAN (seltene solide Tumoren des Erwachsenenalters)
EuroBloodNet (hämatologische Erkrankungen)
eUROGEN (urogenitale Erkrankungen)
ERN EURO-NMD (neuromuskuläre Erkrankungen)
ERN-EYE (Augenkrankheiten)
ERN GENTURIS (genetisch bedingte Tumor-Risiko-Syndrome)
ERN GUARD-HEART (seltene und komplexe Herzerkrankungen)
ERN ITHACA (kongenitale Fehlbildungen und seltene geistige Beeinträchtigungen)
MetabERN (erbliche Stoffwechselstörungen)
ERN PaedCan (pädiatrische Onkologie)
ERN RARE-LIVER (hepatologische Erkrankungen)
ERN ReCONNET (seltene und komplexe Bindegewebs- und muskuloskelettale Erkrankungen)
ERN RITA (Immundefizienzen, autoinflammatorische und Autoimmunkrankheiten)
ERN TRANSPLANT-CHILD (Transplantation im Kindesalter)
VASCERN (seltene vaskuläre Erkrankungen)