Interview

Seltene Erkrankungen: schnelle Diagnostik fördern

Frau Mag.a Weigand, was sind die Ziele von Pro Rare Austria, was möchten Sie als Verein erreichen?

Mag.a Elisabeth Weigand: Pro Rare Austria fungiert als Sprachrohr für die rund 450.000 Betroffenen in Österreich, die an mehr als 6.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen leiden. Unsere Vision und unser Auftrag sind, dass wir versuchen, mit unserer Arbeit für die Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen, soweit das je nach Indikation möglich ist. Wir arbeiten daran, dass es spürbare Verbesserungen für die Betroffenen gibt, und das beginnt bei einem unserer Hauptziele, einer möglichst frühen Diagnose. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn es dauert im Durchschnitt 7 Jahre bis zu einer bestätigten Diagnose. Weitere wichtige Ziele sind, dass die Forschung und natürlich eine ganzheitliche Versorgung inklusive Erstattung ermöglicht und verbessert werden, denn bislang gibt es nur für 6 % der Betroffenen eine ursächliche Therapie. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch die psychische Gesundheit der Menschen.

Wie beurteilen Sie die Versorgung von Patienten und Patientinnen mit seltenen Erkrankungen in Österreich?

Europaweit gibt es inzwischen 24 Expertise-Referenznetzwerke (European Reference Networks; ERN), an die Österreich mit rund 50 Expertise- und assoziierten Zentren für seltene Erkrankungen angebunden ist und über die auch internationale Befundbesprechungen möglich sind. Früher mussten viele Betroffene noch sehr weit herumreisen, und heute ist das Ziel, dass die Expertise reisen soll und nicht die Patienten und Patientinnen. Nach wie vor fehlt aber für viele seltene Erkrankungen eine Versorgung in einem Expertisezentrum. Eine sehr positive Entwicklung in Österreich ist das Neugeborenen-Screening, bei dem über 30 seltene Erkrankungen abgeprüft werden. Durch die Corona-Krise gab es nicht nur Beeinträchtigungen, sondern auch Verbesserungen, gerade die Entwicklungen im Bereich Telemedizin, Digitalisierung und e-Rezept, die natürlich auch für die seltenen Erkrankungen relevant sind. So haben sich auch einige Verbesserungen im Bereich der Heimtherapie ergeben. Da vor allem bei Stoffwechseler-krankungen wöchentliche Infusionen notwendig sind, mussten Patienten und Patientinnen teilweise wöchentlich ins Krankenhaus und haben dadurch bis zu einem Schultag beziehungsweise Arbeitstag verloren. Ein Hindernis war hier die Einigung über die Erstattung durch die jeweils zuständigen Kostenträger, da die Heimtherapie in den niedergelassenen Bereich fällt. Indem die Betroffenen ihre Infusion nun durch die Heimtherapie auch zu Hause, bei der Arbeit oder in der Schule bekommen können, wird weniger Zeit verloren. Da es leider nach wie vor nur für rund 6 % der seltenen Erkrankungen eine ursächliche Therapie gibt, sind begleitende Therapien und ganzheitliche Versorgung wesentlich. Wir fordern hier Verbesserungen bei der Kostenübernahme durch die Kassen, um die hohen finanziellen Belastungen für die Betroffenen bzw. deren Angehörigen zu reduzieren.

Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Transition vom Kinder- und Jugend- zum Erwachsenenalter?

Eine besondere Herausforderung stellt der mit dem Eintritt in die Volljährigkeit verbundene Übergang von der Kinder- und Jugend- in die Erwachsenenmedizin dar. Dadurch dass diese Erkrankungen komplex, multisystemisch und chronisch sind, sind die Betroffenen oft sehr gut versorgt und haben die bestmögliche Betreuung samt Ansprechperson durch den Kinderarzt beziehungsweise die Kinderärztin. Im Idealfall sollte hier ein begleiteter Prozess über 2 Jahre stattfinden, um eine Unterbrechung der regelmäßigen Untersuchungen und Therapien zu vermeiden. Ab der Volljährigkeit dürfen Eltern rechtlich gesehen nicht mehr automatisch die Patienteninformationen ihrer Kinder einsehen. Eine Herausforderung ist dabei auch, dass die Jugendlichen die Wichtigkeit erkennen, da in diesem Alter nicht alle „Lust haben“, Medikamente zu nehmen, regelmäßig zu Ärzten und Ärztinnen zu gehen und vor anderen Jugendlichen als „kranker Mensch“ identifiziert zu werden.

„Die Gesundheitskompetenz sehen wir im Idealfall schon bei den Kindern und Jugendlichen, da viele von ihnen damit aufwachsen und sich Dessen bewusst sind, dass sie eine Erkrankung haben und wie sie damit umgehen müssen.“

Wie beurteilen Sie die Therapieadhärenz bei Patienten und Patientinnen mit seltenen Erkrankungen? Wie könnte man die Adhärenz aus Ihrer Sicht fördern?

Aus unserer Sicht ist die Therapieadhärenz sicher besser als der allgemeine Durchschnitt. Auch die Gesundheitskompetenz, die Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung, sehen wir im Idealfall schon bei den Kindern und Jugendlichen, da viele von ihnen damit aufwachsen und sich seit dem Kleinkindalter dessen bewusst sind, dass sie eine Erkrankung haben und wie sie damit umgehen müssen. Gerade bei seltenen Erkrankungen spüren die Patienten und Patientinnen sofort, was passiert, wenn sie ihre Therapie nicht einhalten. Unterstützend ist hier auch unser großes Netzwerk an Selbsthilfe- und Patientenorganisationen. Hinzu kommt die junge Selbsthilfe, in der junge Menschen einen Austausch pflegen und sich gegenseitig helfen. Meist gibt es auch einen sehr guten Austausch mit den Medizinern und Medizinerinnen, da sie die Betroffenen oft als Partner auf Augenhöhe sehen, die sogar oft viel mehr über die eigene Erkrankung wissen.

Wie können Ärzte und Ärztinnen bestmöglich auf Betroffene mit seltenen Erkrankungen eingehen? Was wünschen sich Patienten und Patientinnen in dieser Hinsicht?

Die Grundvoraussetzung ist, dass die Patienten und Patientinnen schnell eine bestätigte Diagnose bekommen und nicht immer wieder unnötig die Zeit der Ärzte und Ärztinnen in Anspruch nehmen müssen. Und da besteht natürlich die Hoffnung an die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen, dass sie gewisse Signale erkennen und hellhörig werden, dass es sich vielleicht um eine seltene Erkrankung handeln könnte. In diesem Zusammenhang ist unsere Forderung, dass es definierte Patientenpfade gibt, damit die Abklärung durch Spezialisten und Spezialistinnen und klinische Einrichtungen bei entsprechenden Indizien und Signalen zeitnah erfolgt ebenso wie die qualitätsvolle Versorgung. Zur Orientierung gibt es online das Orphanet (orpha.net), in dem die mehr als 6.000 seltenen Erkrankungen gelistet sind, inklusive Expertise-Zentren und aller Informationen, die zentral sind. Das, was sich Patienten und Patientinnen am meisten wünschen, und das hören wir immer wieder, ist mehr Zeit im Arzt-Patienten-Gespräch. Häufig bleibt in den Kassenordinationen zu wenig Zeit, sodass die Betroffenen in den wahlärztlichen Bereich ausweichen müssen. Gerade weil seltene Erkrankungen meist komplex und multisystemisch sind, wäre es wünschenswert, wenn sich für diese Patientengruppe mehr Zeit genommen werden könnte, u. a. auch für die erforderliche Dokumentation der Diagnose bzw. Begründungen für die Erstattung von begleitenden Therapien, Heilbehelfen und Hilfsmitteln.

Welche Fortschritte haben sich in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht ergeben? Was gibt es für neue Entwicklungen im Bereich der seltenen Erkrankungen?

Zum Thema Gentherapien gibt es gerade viele Entwicklungen und vielversprechende Medikamente aus den USA, die jetzt auch in Europa zugelassen werden. Im Herbst gibt es den Kongress der seltenen Erkrankungen, der von der Medizinischen Universität Wien mit uns als Kooperationspartner gemeinsam veranstaltet wird, wo über Neuigkeiten berichtet wird und ein Austausch und Dialog zwischen dem medizinischen Bereich, den Betroffenen, Patientenvertreterinnen und -vertretern sowie allen Stakeholdern erfolgt. Eine wichtige Entwicklung ist auch die Digitalisierung; man arbeitet hier international an verschiedensten Systemen, um Daten zu registrieren und zugänglich zu machen und die Diagnosefindung, Versorgung und Therapieentwicklung zu erleichtern. Hier braucht es interoperable Register, welche die Kooperation österreichweit und international zwischen dem niedergelassenen und klinischen Bereich vereinfachen. Der Datenschutz wird leider häufig als Hindernis erwähnt,
wo das gar nicht notwendig wäre bzw. wo andere Länder bereits die adäquate gesetzliche Basis geschaffen haben und einen Vorsprung haben.

Vielen Dank für das Gespräch!