Sind Migranten anders depressiv?

Stetige internationale Migrationsbewegungenhaben dazu geführt, dass es in einem größeren Ausmaß zu einem Kontakt zwischen unterschiedlichen Kulturen kommt. In den letzten Jahren hat sich daher auch ein zunehmendes Interesse an der psychischen Gesundheit von Migranten entwickelt. Dies hat nicht nur für die Planung und Gestaltung des Gesundheitssystems, sondern auch für den ärztlichen Alltag neue Bedingungen mit sich gebracht.

Im Praxisalltag werden wir immer häufiger auf Patienten unterschiedlicher kultureller Herkunft treffen. Dabei können Diagnostik und Therapie entscheidend erschwert werden, wenn der Arzt nicht ausreichend auf die kulturellen Feinheiten der Symptomschilderung, Erklärungsmodelle und Behandlungserwartungen psychisch erkrankter Migranten eingehen kann. Aufgrund der Vielfalt an kulturellen Kontexten in der europäischen Migrantenpopulation ist es im ärztlichen Alltag schwierig, auf jede einzelne Migrantengruppe einzugehen. Im Folgenden soll das Auftreten und die Darstellung depressiver Störungen bei Migranten im Allgemeinen besprochen werden, ohne im Detail zu sehr auf die einzelnen Gruppen einzugehen.

Depression gehört nicht nur zu den häufigsten psychiatrischen Störungsbildern, sondern trägt auch entscheidend zur Gesamtbelastung durch Erkrankungen bei. Es wird davon ausgegangen, dass die Depression bis zum Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für Funktionsbeeinträchtigung weltweit darstellen wird. Mit der unipolaren depressiven Störung sind 12,15% der durch Funktionsbeeinträchtigung verlorenen Lebensjahre (engl.: years lived with disability, YLD) assoziiert. Die Häufigkeit und Zunahme am Stellenwert der depressiven Störungen für die Belastung der Gesamtgesellschaft ist nicht allein ein Problem der Industriestaaten, sondern auch in einkommensschwachen Ländern trägt die Depression entscheidend zur Morbiditätsstatistik bei. Die Prognosen für Entwicklungsländer lassen sogar erwarten, dass Depression auch dort an führender Stelle der Ursachen für Funktionsbeeinträchtigungen stehen wird.

 

Migration – ein Risikofaktor für depressive Entwicklung?

Kulturelle und soziale Rahmenbedingungen haben, neben individuellen Ressourcen, einen entscheidenden Einfluss darauf, in welchem Ausmaß und auf welche Weise sich belastende und stabilisierende Faktoren auf den Einzelnen auswirken. In den vergangenen Jahren haben einige Untersuchungen in Deutschland das Auftreten und die Prädiktoren von depressiven Störungen bei Migranten untersucht, wobei die Mehrzahl der Studien zu diesem Thema bislang aus Teilen des angelsächsischen Raumes und Nordeuropa stammt.

In Deutschland konnten Glaesmer et al. zeigen, dass die Häufigkeit psychischer Störungen einschließlich der Depression bei Migranten nicht höher lag als bei den Einheimischen. Bermejo et al. kamen in der Reanalyse des deutschen Bundesgesundheitssurveys aus 1998/1999 genau zum gegenteiligen Ergebnis. Sie konnten nachweisen, dass insbesondere die Zwölf-Monats-Prävalenz und die Lebenszeitprävalenz für affektive Störungen bei Migranten erhöht waren.

Einige Studien aus Belgien (türkische und marokkanische Migranten) und den Vereinigten Staaten (karibische Einwanderer) zeigten hingegen, dass die Häufigkeit der Depressionen bei Migranten höher lag als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Die Vergleichbarkeit dieser Studien ist deshalb schwierig, weil in den deutschen Studien die Migrantengruppen als eine homogene Gruppe zusammengefasst wurden. Eine Analyse der Prävalenzen nach Herkunft war nicht möglich.

Auch in metaanalytischen Studien fanden sich widersprüchliche Ergebnisse. Während Swinnen und Selten keinen Zusammenhang zwischen Migrantenstatus und affektiven Störungen eruieren konnten, berichteten Lindert et al. eine doppelt erhöhte Prävalenzrate für Depression bei Flüchtlingen im Vergleich zu „Arbeitsmigranten“ (44% vs. 20%). Einschränkend muss angemerkt werden, dass die Auswertung von Swinnen und Selten keine separate Analyse der Zusammenhänge von unipolaren depressiven Störungen und Migrantenstatus zuließ. Die aktuelle Studienlage lässt noch nicht zu, eine allgemein gültige Aussage zur Prävalenz und zum Risiko für die Entwicklung einer Depression bei Migranten zu machen. Es sind eingehende Studien einzelner Migrantengruppen erforderlich, um spezifische Aussagen treffen zu können.

Sind die Form und der Ausdruck psychischer Symptome kulturabhängig?

Zu den Kernsymptomen der Depression zählen ganz allgemein Störungen des Affekts, des Verhaltens und des körperlichen Befindens. In westlichen kulturellen Kontexten wird die Störung des Affekts als eines der zentralen Symptome der Depression angesehen, in anderen kulturellen Kontexten muss dies nicht zwingend der Fall sein.

Bereits Emil Kraepelin hatte die Beobachtung gemacht, dass die Darstellung der Depression in außereuropäischen Kulturen von der traditionellen europäischen abweichen kann. So müssen z.B. Beschwerden wie gedrückte Stimmung und Traurigkeit nicht in allen kulturellen Kontexten grundsätzlich negativ besetzt sein. In den buddhistischen Lehren z.B. gilt das Leiden als eine der vier Grundwahrheiten, so dass diese in den entsprechenden Regionen nicht als Krankheitsmerkmal gewertet werden. Entsprechend finden sich auch Schuldwahn und Verarmungswahn nicht grundsätzlich als kulturübergreifende Symptome einer schweren Depression.

Für die Unterschiede in der Symptomatik im kulturellen Vergleich können viele Beispiele gebracht werden. Als veranschaulichendes Beispiel sei erwähnt, dass z.B. in Indonesien allgemeine Missempfindungen wie Zittern, Steifigkeit und Brennen der Körperoberfläche als Symptome einer Depression beschrieben wurden, wohingegen in Taiwan ein allgemeines körperliches Schwächegefühl im Vordergrund steht. Körperliche Beschwerden im Rahmen der Depression treten zwar kulturübergreifend auf, jedoch gibt es Hinweise dafür, dass das initiale Berichten dieser Beschwerden bei Menschen aus nichtwestlichen Kulturen häufiger ist. Allerdings ist der Grad der physischen Beschwerden abhängig von Geschlecht, Bildungsstand, sozialem Status und den persönlichen Erklärungsmodellen. Obschon in nichtwestlichen Kulturen bzw. Migranten dieser Regionen häufiger beim Erstkontakt körperliche Symptome berichten, zeigten zahlreiche Untersuchungen, dass es keinen signifikanten Hinweis dafür gibt, dass der körperliche Ausdruck der Depression ein „nichtwestliches“ Phänomen ist.

So zeigten zwei Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass körperliche Beschwerden ein Teil der depressiven Symptomatik in allen beteiligten Ländern waren. Auch fand eine dieser Studien, dass die Ausprägung der depressiven Symptomatik abhängig vom kulturellen Kontext war, z.B. wurden von 68% der befragten Personen des schweizerischen Zentrums Schuldgefühle berichtet, jedoch nur von 32% der befragten Personen im iranischen Zentrum gaben diese an. Im Iran standen dagegen körperliche Beschwerden mit 57% im Vordergrund.

Die subjektiven Erklärungsmodelle für die vorhandenen Beschwerden stellen eine tragende Rolle für das Berichten und Attributieren der Störung dar. Jede Person entwickelt eine persönliche Interpretation für die Beschwerden, deren Ursachen und Folgen. In den meisten westlichen Ländern ist bei psychiatrischer Vorstellung der Ausdruck seelischer Probleme das zentrale Anliegen des Patienten, in „nichtwestlichen“ Ländern ist dies oft noch dadurch erschwert, dass psychische Störungen dort wesentlich stigmatisierter sind. Das Erklärungsmodell des Patienten wird dabei nicht nur von persönlichen Faktoren, sondern auch wesentlich durch soziale und kulturelle Rahmenbedingungen beeinflusst.

Für den Alltag bedeutet dies, dass der „westliche Arzt“ häufig auf für ihn fremde Laienbegriffe und Erklärungsmodelle stößt. Dadurch können Missverständnisse entstehen, die Einfluss auf die Diagnostik und die Therapie haben könnten. So ist z.B. die Zuordnung von Gefühlen zu bestimmten Organen des Körpers in „nichtwestlichen“ Ländern nicht selten. In Indonesien wird als Ausdruck von Traurigkeit gerne der Begr
iff „Hati kecil“ (kleine Leber) gebraucht, in Simbabwe wiederum werden Herz und Kopf mit den Gefühlen Angst und Trauer assoziiert.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass es zu Fehlinterpretationen der geschilderten Beschwerden von Seiten des Klinikers kommen kann, wenn dieser nicht mit den kulturellen Umschreibungen vertraut ist.

Wichtig erscheint auch die Berücksichtigung migrationsassoziierter Stressoren, die oft unterschätzt werden, sowie protektiver Faktoren wie guter sozioökonomischer Status, hoher Bildungsstatus, Freiwilligkeit bei der Migrationsentscheidung, die eine gelingende Akkulturation der Migranten von ihrem Ursprungsland an die neue Gesellschaft erleichtern und fördern könnten.

 

Zusammenfassung und Ausblick

Gerade diese kulturell geprägten Ausdrucksformen der Depression können bei der klinischen Arbeit mit Migranten oft die Frage nach der Abgrenzung zu Differenzialdiagnosen stellen. Dass die Depression eine kulturübergreifende psychische Störung ist, ist weitgehend unbestritten, jedoch wird davon ausgegangen, dass die Art und Weise der Präsentation der Beschwerden kulturell geprägt ist.

Es besteht in diesem Zusammenhang insbesondere die Gefahr, körperliche Beschwerden vorschnell als Teil einer physischen Erkrankung bzw. als Somatisierungsstörung zu deuten. Eingehende Exploration der übrigen Symptome einer Depression ist daher sehr entscheidend. Für die Arbeit mit Migranten bedeutet dies, dass neben der Exploration der psychischen Beschwerden auch die kulturelle Bedeutung und Funktion berücksichtigt werden sollten.

Die Entwicklung in den letzten Jahren weist darauf hin, dass es in Zukunft zu einer wachsenden Bedeutung der kulturspezifischen Verfahren in der psychotherapeutischen und psychiatrischen Forschung, Diagnostik und Praxis kommen wird, die in diesem Sinne integriert und angewandt werden sollten.