Mit der Erfüllung ärztlicher Haupt- und Nebenpflichten bei der Behandlung eines Kleinkindes kommt dem Arzt noch nicht die Rolle eines „Fürsorgeverpflichteten“ zu, sodass ihm der aufgrund der unzureichend durchgeführten Behandlung eingetretene Tod des Kleinkindes nicht wegen „Quälens oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Kinder“ i.S.d. § 92 StGB zugerechnet werden kann. Anderes würde nur dann gelten, wenn der Arzt im Behandlungsvertrag Verpflichtungen übernommen hat, deren Erfüllung ein „Fürsorgeverhältnis“ zum Kind (Beschützerstellung, längere Dauer der Behandlung, Abhängigkeit des Schutzbefohlenen) darstellen würde.
Die Eltern des Kindes hatten sich – trotz Kenntnis der schweren Erkrankung ihres Kindes (SCID, Severe Combined Immunodeficiency) und obwohl ein Knochenmark-Spender für ihr Kind vorhanden gewesen wäre – geweigert, die Transplantation vornehmen zu lassen, die als einzige lebenserhaltende Behandlung in Frage gekommen wäre. Entgegen ausdrücklicher Empfehlung der Ärzte im Krankenhaus und der Warnung, dass auch „banale Erkrankungen“ zu einem tödlichen Verlauf führen können, nahmen sie stattdessen das Kind in häusliche Pflege, das sie dort von dem später ebenfalls angeklagten Arzt mit herkömmlichen (antibiotischen und homöopathischen) Mitteln behandeln ließen. Auch der Empfehlung der Ärzte im Krankenhaus, dem Kind anlässlich regelmäßiger Kontrolltermine Immunglobuline verabreichen zu lassen, kamen die Eltern nicht nach. Der Allgemeinzustand des Kindes verschlechterte sich zusehends, es verlor noch während eines Hausbesuches des Arztes das Bewusstsein und verstarb kurze Zeit später.
Das Erstgericht erachtete die Versäumnisse der Eltern und des behandelnden Arztes als derart schwer, dass es nicht nur den Tatbestand der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen, sondern sogar den Tatbestand des „Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen“ nach § 92 Abs. 2 und 3 Strafgesetzbuch (StGB) als erfüllt ansah. Dieser Tatbestand sieht immerhin eine Strafdrohung von ein bis zehn Jahren Haft vor, während die Strafdrohung der „nur“ fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen auf eine Freiheitsstrafe von maximal drei Jahre begrenzt ist.
Der Oberste Gerichtshof (OGH) bestätigte zwar ein Fehlverhalten der Eltern, hielt ihnen aber zugute, dass sie stets darauf gehofft hatten, der Zustand des Kindes werde sich mit der angewandten Behandlungsmethode bessern, und entschied daher auf eine Verurteilung der Eltern wegen fahrlässiger Tötung (§ 81 Abs. 1 Z 1 StGB). Hinsichtlich der Strafbarkeit des Arztes setzt sich der OGH mit der Frage auseinander, inwieweit für ein Kind übernommene ärztliche Haupt- und Nebenpflichten zu einem fürsorgeähnlichem Verhältnis führen können. Dies wird nun im fortgesetzten Verfahren durch das dazu berufene Erstgericht anhand des übernommenen Behandlungsvertrages des Arztes überprüft. Erst dann ist die Angelegenheit für den Arzt entscheidungsreif.
Bei Behandlungsverträgen, die mit den Eltern von Kleinkindern für diese und auf eine längere Zeit abgeschlossen werden, sollte den Ärzten bewusst sein, dass sie unter Umständen fürsorgeähnliche Verpflichtungen übernehmen und es dabei – im Sinne einer allfälligen strafrechtlichen Verantwortung – keine Rolle spielt, ob die Behandlungsmethode mit den Eltern vereinbart oder von diesen gar gefordert wurde.
Innsbruck, 12. 10. 2012