Ärzte Krone: Seit Jahren konzentriert sich die Weiterentwicklung von Gerinnungshemmern zur Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen auf orale Substanzen. Welches Ziel wird damit verfolgt?
ERNST PILGER: Die in Österreich zur Verfügung stehenden gerinnungshemmenden Arzneimittel Marcoumar® und Sintrom® sind mittlerweile rund 60 Jahre alt. Ärzte und auch Patienten haben inzwischen viele Erfahrungen gesammelt, trotzdem ist die Einstellungsqualität nicht befriedigend. Da es sich um Vitamin-K-Antagonisten handelt, steht deren Wirksamkeit in enger Verbindung mit den Ernährungsgewohnheiten. Das heißt, eine sporadische einseitige Ernährung mit Speisen mit einem hohen Vitamin-K-Gehalt reduziert die Wirksamkeit dieser Medikamente und erhöht dadurch das Risiko von neuerlichen Thrombosen und Embolien.
Im Gegenzug führt eine unregelmäßige Ernährung mit geringer Vitamin-K-Zufuhr zu einer gesteigerten Wirkung und dadurch zu einem hohen Blutungsrisiko. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass bei diesen Patienten eine regelmäßige Gerinnungskontrolle durchgeführt wird.
Um die Therapie mit gerinnungshemmenden Substanzen für die Patienten einfacher zu machen, wird daher nach Medikamenten gesucht, die von der Ernährung unabhängig sind, eine einheitliche Dosierung ermöglichen und keine Gerinnungskontrollen erfordern. Gleichzeitig muss aber auch die Wirksamkeit gegeben sein, ohne dass ein zusätzliches Blutungsrisiko besteht.
Neben der regelmäßigen Einnahme müssen Patienten darauf achten, dass ihre Ernährung ebenfalls regelmäßig und ausgewogen erfolgt. Das heißt, die Patienten dürfen auf die Einnahme nicht vergessen, sie dürfen weder tageweise fasten noch sporadisch übermäßig viel Alkohol zu sich nehmen. Ebenso gibt es Interaktionen mit anderen Medikamenten, sodass eine selbstständige Einnahme von z.B. schmerzstillenden Medikamenten tunlichst vermieden werden soll.
Wie hoch schätzen sie den Anteil der mit Marcoumar® oder Sintrom® richtig eingestellten Patienten?
Trotz regelmäßiger Medikamenteneinnahme und entsprechender Gerinnungskontrollen ist maximal jeder zweite Patient optimal eingestellt. Dies weist auf die möglichen Über- und Unterdosierungen bedingt durch Nahrungsaufnahme sowie die gleichzeitige Einnahme von anderen Medikamenten hin.
Während Marcoumar® und Sintrom® jeweils mehrere Gerinnungsfaktoren gleichzeitig hemmen (Faktor II, VII, IX und X), antagonisieren die neuen Substanzen jeweils nur einen Gerinnungsfaktor. Dabei gibt es die Gruppe der Faktor Xa-Antagonisten, z.B. Rivaroxaban (Xarelto®), und den Faktor II-Antagonisten oder Prothrombinhemmer, Dabigatran (Pradaxa®). Durch diese selektive Antagonisierung von Einzelfaktoren ist eine Interaktion mit anderen Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren ausgeschlossen.
Man erhofft sich durch diese selektive Hemmung von Einzelfaktoren, dass klinische Wirksamkeit und Blutungsrisiko ein günstigeres Verhältnis aufweisen als die herkömmlichen Medikamente. Ein wesentlicher Vorteil der neuen Substanzen ist zweifellos die Vitamin-K-Unabhängigkeit und damit die fehlende Beeinflussbarkeit durch die Ernährung. Dadurch besteht die Möglichkeit einer einheitlichen, fixen Dosierung und keine Notwendigkeit von regelmäßigen Gerinnungskontrollen.
An erster Stelle steht die Verhinderung von Blutgerinnseln beim Vorhofflimmern und dadurch die Reduktion von embolisch verursachten Schlaganfällen. An zweiter Stelle sollen diese Substanzen bei der Verhinderung von venösen Thrombosen und Lungenembolien eingesetzt werden.
Grundsätzlich besteht bei einer Hemmung der Blutgerinnung eine Erhöhung des Blutungsrisikos. Das heißt, je stärker die Hemmung der Blutgerinnung umso höher das Blutungsrisiko. Dies gilt grundsätzlich für alle gerinnungshemmenden Medikamente. Das therapeutische Ziel besteht grundsätzlich darin, dieses Verhältnis zugunsten der Gerinnungshemmung zu verschieben. Die bisherigen groß angelegten Studien ergaben, dass die neuen gerinnungshemmenden Substanzen zumindest gleich gut – zum Teil besser – in der Verhinderung von Thrombosen und Embolien sind, andererseits aber auch, dass es in bestimmten Situationen zu einer erhöhten Blutungsneigung kommen kann.
Ja, in erster Linie sind dies Patienten mit einer schlechten Compliance. Das heißt, es ist nicht gewährleistet, dass die Einnahme des Medikaments regelmäßig erfolgt. Ebenso sollten Patienten, die grundsätzlich eine erhöhte Blutungsneigung haben (z.B. Patienten mit regelmäßigen Magengeschwüren oder gastrointestinalen Blutungen) oder Patienten, die gleichzeitig plättchenhemmende Substanzen (z.B. Aspirin, Clopidogrel) einnehmen, nicht mit den neuen Substanzen behandelt werden.
Vor Beginn einer Behandlung mit den neuen oralen Antikoagulantien ist die Nierenfunktion durch die Bestimmung der Kreatinin-Clearance zu prüfen. Auch während der Therapie sollte die Nierenfunktion – vor allem bei Patienten im fortgeschrittenen Alter bzw. bei Patienten, die mehrere Medikamente einnehmen – überprüft werden.
Grundsätzlich nein. Bisher gibt es keine Hinweise, dass medikamentöse Interaktionen bzw. Interaktionen in Nahrungsmittelbestandteilen bestehen. Allerdings gibt es bisher keine Erfahrungen über die gleichzeitige Einnahme von Thrombozytenfunktionshemmern.
Wir haben mit diesen neuen Substanzen sehr viele Studien mitgemacht und konnten dabei sehr gute Erfahrungen sammeln. Allerdings gibt es auch gewisse Nachteile bei der Anwendung der neuen Substanzen. In einer Notfallsituation ist es derzeit nur eingeschränkt möglich, dass Ausmaß der Gerinnungshemmung zu bestimmen. Es gibt keinen Gerinnungswert, der unter der Einnahme der neuen oralen Antikoagulantien eine Über- oder eine Unterdosierung widerspiegelt. Ebenso gibt es derzeit noch kein spezifisches Gegenmittel beim Auftreten einer akuten Blutungskomplikation. Allerdings kann die gerinnungshemmende Wirkung durch die Gabe der bisherigen Gerinnungsfaktoren-Konzentrate weitestgehend normalisiert werden.
Grundsätzlich sind jene Patienten Kandidaten für eine Umstellung, die mit einem bisherigen gerinnungshemmenden Medikament schlecht eingestellt waren und bei denen eine länger dauernde Antikoagulation absolut notwendig ist. Beispielsweise bei permanentem Vorhofflimmern oder bei einem Zustand nach einer venösen Thromboembolie. Patienten, die unter den herkömmlichen Medikamenten einen konstanten Gerinnungswert und eine hohe Compliance aufweisen, sollten nicht auf ein neues orales Antikoagulantium umgestellt werden.