Viren und Bakterien bedrohen unsere Gesundheit und damit auch unser Leben. Die Corona-Pandemie, ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2, ruft Erinnerungen an die Spanische Grippe aus den Jahren 1918/19, die weltweit zu geschätzt 20–50 Millionen Todesopfern geführt hat, in unser Gedächtnis. Wir erleben bakterielle Erkrankungen, die unbeherrschbar zum Tode führen, und diskutieren weltweit über die zunehmende Antibiotikaresistenz. Das ist alles angsterregend, und wir unternehmen immer größere Anstrengungen, uns vor dadurch bedingten Krankheiten und damit vor Ansteckung zu schützen. Gibt es da nicht noch andere Aspekte?
Zu Beginn unserer Evolution vor 3,8 Millionen Jahren standen Ribonukleinsäuren (RNA), die zur Reproduktion fähig waren. Ganz langsam entwickelten sich daraus Einzeller, aus denen sich die Vielfalt unseres Lebens entwickelte. Viren oder virusähnliche Partikel mit RNA haben wahrscheinlich von Anfang an eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Steuerung von Genen übernommen. Heute verwendet die Wissenschaft gezielt Viren zum Einschleusen und Reparieren von Genen für alle möglichen Zwecke. Das bedeutet, Viren sind nicht nur potenzielle Krankheitserreger, sondern sie sind ein Motor der Evolution, der die Artenvielfalt auf der Erde erst möglich gemacht hat, und Viren können auf der anderen Seite auch vor Krankheiten schützen.
Mit den meisten Viren kann das Immunsystem des menschlichen Körpers sehr gut umgehen, und ein gesundes Immunsystem ist auch gut darauf trainiert, Viren und andere Eindringlinge zu eliminieren. Trifft ein unbekannter Virus auf das Immunsystem und ist dieses zusätzlich noch geschwächt, kann es zu bedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Wir erleben das aktuell mit der Pandemie und haben es auch in unserer Geschichte erlebt, als europäische Forscher auf Völker in der Neuen Welt trafen und diese durch die Konfrontation mit unbekannten Krankheitserregern banalen Infekten erlagen. Anpassung des Menschen an Viren und Veränderung bekannter Viren begleiten uns schon immer.
Heute können wir die Anpassung des Menschen beziehungsweise unseres Immunsystems dadurch beeinflussen, dass wir mit Impfungen unsere Abwehr schon frühzeitig trainieren, damit Viruserkrankungen nicht oder nur sehr abgeschwächt ausbrechen. Das ergibt Sinn, und viele schwere oder möglicherweise tödliche Krankheitsverläufe werden verhindert.
Die meisten Virusinfektionen sind harmlos, viele verursachen bei den meisten Menschen wenige bis keine Symptome wie Adenoviren, Rhinoviren und auch die meisten Coronaviren. Die Vielfalt der Viren ist groß, und ebenso unterschiedlich sind die Krankheitsverläufe, wie zum Beispiel bei den verschiedenen Herpesviren. Doch gegen manche Viren, wie zum Beispiel HIV, hat unser Immunsystem noch keine Antwort gefunden. 33 Millionen Tote seit den 1980er-Jahren sind wahrscheinlich dieser Infektion zuzuordnen.1 Eine Impfung dagegen wurde bisher nicht gefunden.
Auch die jährlich auftretende Influenza fordert weltweit nach Schätzungen der WHO im Schnitt jedes Jahr 650.000 Todesopfer2, obwohl es eine Impfung gibt.
Viren, die sich über Bakterien vermehren, sind wichtige Bestandteile unseres Mikrobioms. Auch sie sind für unsere Gesundheit verantwortlich und beeinflussen das Gleichgewicht im Darm. Das Wissen über sie und ihre therapeutische Verwendung bei chronischen bakteriellen Infektionen nimmt derzeit rasch zu. Sie sind die Hoffnungsträger bei Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen.
Ein ähnliches Bild wie bei den Viren zeigt sich bei den Bakterien. Bakterien haben ebenfalls eine große Bedeutung für unsere Entwicklung. Allein die Tatsache, dass wir Menschen in und am Körper 10-mal mehr Bakterien tragen als wir Zellen haben, gibt uns eine Vorstellung davon, wie wichtig diese kleinen Lebewesen für unser Leben sind. Ein Leben ohne Bakterien ist nicht vorstellbar. Bakterien haben wir in großer Zahl im Mund, im Darm, in den Atemwegen, auf der Haut und im Genitalbereich. Sie sind für uns notwendig, werden von der Mutter auf das Neugeborene übertragen, bilden unser individuelles Mikrobiom, steuern unsere Verdauung, haben Einfluss auf Krankheit und Gesundheit durch direkte und indirekte Beeinflussung des Immunsystems, und sie haben sogar Auswirkungen auf die Psyche. Bakterien sind zum Großteil apathogen, halten sich gegenseitig in Balance und werden erst pathogen, wenn das Verhältnis zueinander, die Homöostase, nicht mehr stimmt.
Noch vor hundert Jahren waren Infektionen die häufigste Todesursache und dafür verantwortlich, dass in Mitteleuropa die durchschnittliche Lebenserwartung bei knapp über 40 Jahren gelegen hat. Durch die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming 1928 und durch allgemeine hygienische Maßnahmen, insbesondere eine aufwendige Trinkwasserkultur und Trennung sowie Beseitigung des Abwassers, gelang der Durchbruch. Wir waren plötzlich im Stande, viele Infektionen, die früher zum Tode geführt hatten, einerseits zu vermeiden, andererseits zu behandeln. Es war eine Revolution. Heute steht uns eine ganze Reihe verschiedener Antibiotika zur Verfügung, und wir können bakterielle Infekte meist gut behandeln.
Dies hat allerdings zu einer „Antibiotika-Gläubigkeit“ geführt, sodass Antibiotika heute in enormem Ausmaß nicht nur zur Behandlung bakterieller Erkrankungen, sondern auch bei viralen Infekten, bei denen sie nicht helfen können, und vor allem im großen Stil in der Tierzucht verwendet werden. Der unkritische Einsatz von Antibiotika führt letztlich zu immer mehr resistenten Keimen. Wir haben Weltregionen, zum Beispiel Indien, wo eine nahezu 100%ige Resistenz gegen Antibiotika besteht. Das bedeutet, viele bakterielle Infekte – auch banale – können mit Antibiotika nicht mehr behandelt werden, und die Menschen sterben wieder an Infekten wie bei uns vor 100 Jahren.
Auch in Mitteleuropa hat es sich in der Routine des ärztlichen Alltags eingeschlichen, durchaus auch getriggert durch den Patientenwunsch und zur rechtlichen Absicherung („Damit wir auch alles getan haben“), Antibiotika breit einzusetzen. Wir lassen auch keine Zeit für ein „offenes Abwarten“ („Watchful Waiting“). Viele Infekte – ob viral oder bakteriell – heilen von allein aus, ganz ohne unser ärztliches Zutun. Jene Menschen, die früher an Infekten gestorben sind, sind in der Regel nicht in wenigen Tagen gestorben, und heute haben wir die Möglichkeit, über Antibiotika rechtzeitig einzugreifen.
Natürlich muss es unsere ärztliche Kunst und Handfertigkeit sein, potenziell gefährliche Verläufe zu erkennen. Eine massive Pneumonie, eine exazerbierte COPD oder eine fieberhafte Nierenbeckenentzündung gehört entsprechend behandelt; alles andere wäre ein Kunstfehler.
Die vielen Antibiotikatherapien haben natürlich Auswirkungen auf unseren Körper. Jeder von uns hat schon erlebt, dass nach einer Antibiotikatherapie der Darm mit Durchfall reagiert, dass Frauen eine Scheidenmykose entwickeln oder dass eine Neigung zu rezidivierenden Infekten entsteht. Säuglinge, die sehr früh ein Antibiotikum bekommen haben oder deren Mutter in der Stillzeit antibiotisch behandelt wurde, leiden oft lange Zeit an Verdauungsstörungen oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten.
Wir kennen die komplexen Zusammenhänge des gestörten Mikrobioms noch viel zu wenig und sollten die Therapieindikation deshalb sehr genau abwägen. Eine Regel erscheint mir wichtig: Je jünger ein Mensch, desto strenger die Indikation für eine Antibiotikatherapie. Im höheren Alter dürfen wir durchaus auch einmal großzügiger sein.
Die Behandlung von Infekten, banalen und nicht banalen, viralen und bakteriellen, ist Alltagsroutine in der Allgemeinmedizin. Trotzdem ist es spannend, jeden Fall neu zu betrachten, anhand der Befunde individuell heranzugehen und trotz der häufigen „diagnostischen Unsicherheit“, die in der Allgemeinmedizin natürlicherweise einen breiten Raum einnimmt, den Patienten seinen Bedürfnissen gerecht, bestmöglich zu behandeln. Das ist gelebte Allgemeinmedizin!