Bei Konsilien am Klinikum, bei Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen – immer wieder hört man ähnliche Bemerkungen und Stellungnahmen: „Was macht die Geriatrie denn so anders?“, „Warum glauben sie denn, braucht man die Geriatrie?“, „Geriatrie passiert ja ohnehin!“.
Stellen sie diese Fragen anderen Fachspezialisten und lassen Sie vor ihrem geistigen Auge die Reaktionen Revue passieren! Auch Hausärzte oder Chirurgen betreuen Patienten mit Herzinsuffizienz oder Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, und dies in der Hoffnung, während ihrer Ausbildung auch tatsächlich in den Grundkompetenzen dafür ausgebildet worden zu sein. Die komplexen Bedürfnisse multimorbider älterer Patienten, welche zusätzlich ein hohes Risiko von funktionellen Defiziten tragen, scheinen bisher in keinem postgradualen Ausbildungscurriculum für Ärzte auf. Der Irrglaube, dass sich die Fertigkeit für das optimierte Management dieser hochvulnerablen Klientel von alleine einstellt, scheint nach wie vor weitverbreitet.
Vielmehr scheint es so zu sein, dass viele Stakeholder im System von Kenntnissen, Fertigkeiten und Haltungen sprechen und befinden ohne über Qualität oder Inhalt Bescheid zu wissen. Also, was macht ein Geriater? Die Geriatrie ist die einzige Fachspezialität der Medizin, welche in integrierter Form die komplexe Betreuung älterer multimorbider Patienten anbietet. Die Grundlage des geriatrischen Managements bildet die Arbeit im geriatrischen Team unter Einbindung der umfassenden geriatrischen Assessments. Dieses fachspezifische Konzept ist in Österreich strukturell primär im stationären Versorgungsbereich verankert. Die flächendeckende Primärversorgung alter, multimorbider Patienten erfolgt aber derzeit primär durch alleine auf sich gestellte Ärzte der Allgemeinmedizin.
Seit 2011 war in Österreich die Geriatrie in Form eines Additivfachs verankert. Dieses konnte formell aus den Kernfächern Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Neurologie, Physikalische Medizin und Psychiatrie erlangt werden. De facto haben die meisten heute etablierten Geriater ihre Anerkennung zu Fachärzten im Zuge von Übergangsbestimmungen nach Absolvierung des Geriatriediploms der Österreichischen Ärztekammer erhalten. Seitens der Remunerierung durch Sozialversicherungsträger oder Krankenhausträger hatte diese Entwicklung keinen wesentlichen Einfluss. „So what?“, oder besser ausgedrückt: „Wozu die ganze Aufregung?“
Vergleicht man die österreichische Lösung der Herausforderungen in Anbetracht der Überalterung der Bevölkerung mit dem restlichen Europa, tun sich schreckliche Abgründe auf: In 64% der europäischen Staaten ist die Geriatrie seit Jahren als eigenständiges Sonderfach anerkannt. In den restlichen Mitgliedsstaaten (darunter bis 1. Juli 2015 auch Österreich) ist die Geriatrie als Additivfach verankert. Lediglich in Zypern, Griechenland, Portugal und Slowenien war die Geriatrie bis vor kurzem nicht als eigenständiger Fachbereich anerkannt.
Mit der Ärzteausbildungsnovelle dieses Jahres wurden (angeblich) zielgerichtet die Weichen für die Entwicklung eines nachhaltigen Ausbildungsmodells für Ärzte in Österreich gestellt. Österreich altert: Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt lag 2010 für Männer bei 77,7 und für Frauen bei 83,2 Jahren. Bis 2030 soll sie um weitere 4,6 bzw. 3,6 Jahre steigen. Bis 2030 soll der Anteil der über 60-Jährigen auf gesamt 31,2% der österreichischen Bevölkerung steigen. Lassen Sie uns hoffen, dass alle Strategien zum gesunden und aktiven Altern in den nächsten Jahren Früchte tragen mögen!
Denn mit der laufenden Ausbildungsreform wurde nicht gemäß dem Europäischen Kontext vorsorglich versucht, die Strukturen und Konzepte dem abzusehenden Bedarf anzupassen. Nein, vielmehr ist die Geriatrie, wiewohl in Europa und den USA bereits lange als das „Zukunftsfach in der Medizin“ anerkannt, dem Kahlschlag von Schreibtischplanungen und standespolitischen Interessen zum Opfer gefallen. Geplant ist, so hört man aus kompetenten Kreisen, eine fächerübergreifende Spezialisierung. Wer die Ausbildung aller Kollegen übernehmen soll, bleibt ein wohl gehütetes Geheimnis. Denn man argumentiert weiters, dass sich das Lernziel „Fachspezifische Geriatrische Kenntnisse“ ohnehin in allen Sonderfächern punktuell wiederfindet. Die Frage der Ausbildungsqualität führt zurück an den Anfang dieses Beitrags, nämlich der Frage der Fachspezialisten: „Was macht denn die Geriatrie so anders – WIR behandeln doch auch ALLE alte Patienten?“. Diese Ausbildungsverantwortlichen werden auch für die Qualität und Inhalte des Lernziels „Fachspezifische Geriatrie“ verantwortlich zeichnen. Die Frage, wer die Verantwortung für die Gesamtqualität der Betreuung multimorbider, alter Patienten übernimmt bleibt offen.
Einzig die Zahl von Widereinweisungsraten in den Spitalsbereich, die Überweisung in Langzeitpflegeeinrichtungen nach Spitalsaufenthalten und die Inanspruchnahme von mobiler Betreuung und Hausärztekontakten wird Antwort darauf geben. Dies insbesondere dann, wenn man wieder einmal über die österreichische Grenze hinweg in EU-Nachbarländer zu schauen gedenkt. Die Empfehlung lautet dann aber sicherlich, sich nicht im Sinne des Benchmarking nach Qualitätsindikatoren in der ärztlichen Betreuung oder nach gesundheitsökonomischen Parametern zu richten. Denn in diesem Bereich wird sich Österreich wohl kaum im Sinne von internationaler Wettbewerbsfähigkeit positionieren können. Bleibt die Frage, was wäre die Alternative?
Grundlage für eine nachhaltige Ärzteausbildung sollen geriatrische Lehrinhalte bereits in der Curricula an Medizinischen Universitäten gemäß den in Age & Ageing 2014 publizierten Europäischen Richtlinien darstellen. Diese wurden von allen drei großen Europäischen Fachgesellschaften (IAGG-ER, EAMA, EUGMS) sowie der Fachvertretung der Geriatrie in Brüssel UEMS-GMS anerkannt. Faktum ist, dass derzeit nur in Graz ein international vergleichbarer integrierter Lernzielkatalog für den Fachbereich Geriatrie in der prä-promotionellen Ausbildung besteht. Die Privatuniversität Salzburg integriert Lerninhalte der Geriatrie geblockt ins Pflichtcurriculum.
Auf Grundlage der prägraduellen Ausbildung sollte in weiterer Folge jeder Kollege Kernelemente oder sogenannte Grundkompetenzen für die qualitativ angepasste Betreuung komplexer geriatrischer Patienten erlernen. Die internationalen Empfehlungen über Inhalte und Lerntiefen der Grundkompetenzen in Geriatrie für alle Kollegen in Ausbildung sind auf europäischer Ebenen derzeit gerade in Überarbeitung. Eine über Jahre mit hohem Qualitätsniveau etablierte Grundausbildung wird in Großbritannien angeboten. Diese Curricula könnten auch durchwegs für Österreich als Grundlage für weiterführende Entwicklungen herangezogen werden.
Ungeachtet der angesprochenen Grundkenntnisse für alle Fachkollegen braucht es aber wie bisher Experten im Bereich der Geriatrie. Diese übernehmen qualitativ hochwertige Betreuung komplexer multimorbider Patienten in entsprechenden – bereits bestehenden – Spitalsstrukturen, sorgen für die Exzellenz in Forschung und Lehre und bilden auch alle jene Kollegen aus anderen Fachbereichen aus, die über die angesprochenen Grundkompetenzen verfügen sollten. Ein entsprechendes Ausbildungscurriculum, das internationalen Standards entspricht, auf aktuelle Strukturen abgestimmt ist und den Bedürfnissen der alten Bevölkerung entspricht, wurde bei allen für die Ausbildungsreform verantwortlichen Stellen seitens der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) vorgelegt und blieb ungehört. Unergründlich bleiben die Motive dafür. Ein Sinneswandel ist wohl erst dann zu erwarten, wenn die entsprechenden Entscheidungsträger selbst, oder in ihrem familiären Umfeld eine entsprechende Fachexpertise in Anspruch nehmen möchten. Dann ist es allerdings angesichts der aktuellen Planungen zu spät, bleibt eine zeitlose Aussage eines klugen Mannes: „Der Wert einer Gesellschaft wird einmal daran gemessen werden, wie sie mit ihren Alten umgeht.“ (Albert Einstein).