Weniger Kassen, mehr Ärzte

Nach langen Debatten und Kritik im Vorfeld hat die Regierungsspitze ihre Pläne für die Reform der Sozialversicherungen vorgelegt. Und sie feierte sich dafür selbst: „Wir dürfen heute eines der größten Reformprojekte in der Geschichte Österreichs präsentieren. Seit rund 50 Jahren wird bereits darüber diskutiert, die Zahl der Kassen zu reduzieren. Es gab immer wieder Regierungen, die das versucht haben und in ihr Regierungsprogramm geschrieben hatten, aber die Reform hat niemals stattgefunden. Diese Regierung setzt nun um, was angekündigt wurde. Wir vereinfachen das System und führen schon lange notwendige Reformschritte endlich durch“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in der Pressekonferenz im Bundeskanzleramt zur Sozialversicherungsreform. Gemeinsam mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache, Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein (beide FPÖ) und ÖVP-Klubobmann und Gesundheitssprecher August Wöginger präsentierte er die Eckpunkte der geplanten Kassenreform. Gesundheitsministerin Hartinger-Klein sprach von einem „sozial- und gesundheitspolitischen Meilenstein“, der auf mehr Fairness im System, einheitliche Leistungen und eine langfristige Finanzierbarkeit abzielt. Die Opposition, Arbeitnehmerverbände, Ländervertreter und auch die Rechnungshofpräsidentin zeigten sich hingegen skeptisch.
Geplant – der Gesetzestext soll im Sommer kommen – ist jedenfalls eine Struktur- und Verwaltungsreform und keine Gesundheitsreform, betonten Kurz und Hartinger-Klein. Bei den Sozialversicherungsträgern sollen bis 2023 rund eine Milliarde Euro eingespart werden. „Wir reduzieren die Kosten in der Verwaltung und stellen sicher, dass der Erlös der Reform bei den Patienten ankommt“, betonte Hartinger-Klein. Das Geld soll dann in bessere Leistungen für die Patienten investiert werden. Die Ministerin betonte, dass mit der Reform ein „faires System“ geschaffen werden soll: „Wir wollen mehr Gerechtigkeit schaffen, indem die gleichen Leistungen für gleiche Beiträge angeboten werden.“
Es sei auch nicht zu befürchten, dass Krankenhäuser geschlossen würden. Gespart werde im System durch eine schlankere Verwaltung und effizientere Strukturen und nicht bei den Gesundheitsleistungen. So wolle man unter anderem den niedergelassenen Bereich stärken, Wartezeiten verkürzen und einheitliche Standards in der Gesundheitsversorgung sicherstellen.

Zukunft der AUVA noch offen

Dafür sollen die Sozialversicherungsträger künftig von 21 auf maximal 5 reduziert werden. Die neun Gebietskrankenkassen sollen zu einer „Österreichischen Gesundheitskasse“ zusammengefasst werden. Daneben wird es noch eine Sozialversicherung für Selbständige (mit Bauern- und Wirtschaftskasse), eine Versicherungsanstalt für den öffentlichen Dienst (mit Eisenbahner- und Bergbaukasse) sowie die Pensionsversicherungsanstalt geben. Die fünf Betriebskrankenkassen bekommen die Möglichkeit, in die ÖGK hinein zu optieren. Andernfalls sind sie gesetzlich als private Wohlfahrtseinrichtungen zu etablieren.
Der Weiterbestand der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt AUVA sei noch abhängig von der Erfüllung vereinbarter Vorgaben. Wie berichtet soll die AUVA Vorschläge für Einsparungen in der Höhe von 500 Millionen Euro auf den Tisch legen. Wie das genau gehen soll, ist noch offen. Offen ist auch die Zukunft der bestehenden Krankenfürsorgeanstalten (KFA) von Ländern und Gemeinden.
„Die Strukturreform ermöglicht die Einsparung von 80 Prozent der Funktionäre“, betonte Hartinger-Klein. Statt bisher über 2.000 werde es künftig nur noch rund 400 Funktionäre im Sozialversicherungssystem geben. Weiters könne bei den Verwaltungsgremien von derzeit 90 auf 30 gekürzt werden, statt 21 seien nur noch fünf bis sechs Generaldirektoren erforderlich. Durch die Nichtnachbesetzung von Verwaltungsstellen sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren etwa 30 % der Posten in den Kassen eingespart werden.
Entlastet werden sollen dadurch auch die Ärzte, die es mit weniger Bürokratie zu tun haben sollen. Weniger Kassen bedeute auch eine einfachere Abrechnung von Leistungen. Dazu komme die Vereinheitlichung der Leistungen. Die befürchtete zentrale Steuerung soll es vorerst nicht geben. Die ÖGK hat für eine bundesweit ausgeglichene Gebarung zu sorgen und den Landesstellen ausreichende Mittel entsprechend den von ihnen zu verantwortenden Aufgaben zur Verfügung zu stellen. „Jedenfalls soll sichergestellt werden, dass den Versicherten in jedem Bundesland die Beitragseinnahmen der jeweiligen Gebietskrankenkasse im Jahr 2017 entsprechen“, heißt es aus Regierungskreisen. Die ÖGK ist zuständig für die Verhandlung eines österreichweiten Gesamtvertrages mit den Ärzten und der entsprechenden Honorare. Die Landesstellen der ÖGK sind weiterhin für die regionale Versorgungsplanung zuständig, und es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, Zu- und Abschläge auf Grundlage des österreichweiten Gesamtvertrages zu verhandeln.
Budget- und Personalhoheit erhält damit die ÖGK. Zusätzlich ist aber eine länderweise Budgetautonomie geplant, die allerdings nur den Einsatz der im Land bis 31. 12. 2018 frei verfügbaren allgemeinen, nicht gebundenen Rücklagen umfasst sowie die Verwendung der Mittel für Gesundheitsreformprojekte. Die Beitragseinhebung soll auch zukünftig „einheitlich und zentral durch die ÖGK erfolgen“. Anstelle der Gebietskrankenkassen sollen die Beiträge durch die ÖGK eingehoben werden. Die derzeitige Beitragsprüfung soll effizienter organisiert werden und erfolgt zukünftig ausschließlich durch das Finanzministerium.
An den „Prinzipien einer partizipativen Selbstverwaltung“ will die Regierung festhalten. Allerdings wird der Einfluss der Unternehmensvertreter ausgebaut und jener der Gewerkschafter eingeschränkt. „Die bisherigen Selbstverwaltungsgremien (Vorstand, Kontrollversammlung, Generalversammlung) werden in ein einziges Selbstverwaltungsgremium (Verwaltungsrat) übergeführt und deutlich verschlankt. Die Anzahl der Mitglieder und die Zusammensetzung der Versicherungsvertreter differiert je nach Art des Trägers.“ Inhaltlich ist das nicht unbedingt neu – es entspricht der 2004 gewählten Struktur des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger. Das Ergebnis dort: Seit der damaligen Reform unter der Regierung Schüssel I wird der Verbandsvorsitzende von der Dienstgeberseite gestellt und kann der ÖVP zugeordnet werden.

Reaktionen zur Reform

Ärztekammer

Der von der Bundesregierung geplante Ausbau des niedergelassenen ärztlichen Bereichs ist zu begrüßen, hier besteht seit vielen Jahren massiver Nachholbedarf“, sagt MR Dr. Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer, in einer ersten Reaktion. Bei der so genannten „Gesundheitsmilliarde“, die sich die Regierung von der Kassenzusammenlegung erwartet, werde sehr genau zu beobachten sein, „ob sich die Erwartungen der Politik erfüllen und dieses Geld auch wirklich bei den niedergelassenen Ärzten ankommt und damit versorgungswirksam wird“. Fraglich sei, ob die geplante Leistungsharmonisierung auch wirklich in der Lage sei, ein Leistungsplus zu bringen und nicht zu Kürzungen und Einsparungen führt. Steinhart: „Eine Nivellierung nach unten darf es hier nicht geben, das ginge auf Kosten der Versorgung und wäre Ärzten und Patienten nicht zumutbar.“ Erfreulich sei, dass es offensichtlich konkrete Pläne gebe, die Einsparungen aus der Struktur- und Verwaltungsreformen zu erzielen und nicht auf dem Rücken der Patienten.

Hauptverband

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger sieht in der präsentierten Punktation durchaus positive Aspekte. „Wir begrüßen den Fortbestand der Selbstverwaltung, das Verbleiben der Beitragseinhebung bei der Sozialversicherung, das grundsätzliche Bekenntnis zur AUVA und vor allem die angekündigte Umsetzung in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern als Träger der Selbstverwaltung“, kommentiert Dr. Alexander Biach, Vorsitzender des Hauptverbandes, die Pläne. Und Biach vermerkt positiv, dass hier die Expertise der Sozialversicherung offenbar zu einer Richtungsänderung geführt habe. Bei etlichen Themen, wie der Ausgestaltung der Gremien, der Beitragsprüfung, der Leistungsharmonisierung und den angeführten Einsparungen, ortet der Hauptverbandsvorsitzende aber durchaus Klärungsbedarf und bietet der Regierung weiterhin vollste Kooperation und Gesprächsbereitschaft an. Dass die Regierung mehrfach die Bedeutung der Leistungsharmonisierung angesprochen hat, bestätige den von den Trägern vor einem Jahr eingeschlagenen Weg, wo bereits etliche Harmonisierungen gelungen sind. „Ich hätte mir hier eigentlich das ambitioniertere Ziel – eine Harmonisierung über alle Träger und nicht nur innerhalb der ÖGK – vorgestellt“, deutet Biach Nachbesserungsbedarf in der Frage der Leistungsharmonisierung an.

WGKK

„Bei der angekündigten Reform der Sozialversicherung geht es nicht um die Menschen, sondern allein um die Struktur – konkret, um die Machtverschiebung zugunsten der Arbeitgeber“, kritisiert Mag. Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK). Was die angesprochenen Einsparungen angeht, weist die WGKK-Obfrau darauf hin, dass durch die Reduktion der Funktionärinnen und Funktionäre nicht das große Geld zu holen sei. Die Mehrheit arbeite ehrenamtlich und erhalte lediglich ein Sitzungsgeld von 42 Euro. „Eine Einsparung in diesem Bereich ist öffentlich zwar gut zu verkaufen, bringt monetär aber nur sehr wenig.“ Die Gebietskrankenkassen seien in puncto Leistungsharmonisierung schon jetzt auf sehr gutem Weg, während andere Unterschiede und Privilegien im System nach wie vor aufrechterhalten blieben.

SVA der gewerblichen Wirtschaft

„Wir stehen Reformen, die den Versicherten zugutekommen, immer positiv gegenüber“, sagt Mag. Alexander Herzog, Obmann-Stellvertreter der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft. Die neue Gesamtstruktur, der Erhalt des Prinzips der Selbstverwaltung in der neuen Verwaltungsstruktur, die eigenständige Beitragseinhebung sowie auch die Organisation nach dem berufsständischen Prinzip mache durchaus Sinn. „Wir werden künftig für alle Selbständigen – auch aus dem Bereich der Landwirtschaft – zum One-Stop-Shop in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung.“

Unfallversicherung

AUVA-Obmann Dr. Anton Ofner geht von einem weiteren Fortbestehen seines Trägers aus. Die Regierung habe auch Einsparungspotenziale angesprochen, die gesetzlicher Maßnahmen bedürfen oder im Verhandlungsweg mit anderen Sozialversicherungsträgern oder Gebietskörperschaften zu erreichen sind. Wenn die AUVA die Entgeltfortzahlungen für Arbeitnehmer und die zu geringe Vergütung für Freizeitunfälle beziehungsweise die zu hohen Zahlungen für Arbeitsunfälle abgegolten bekomme, sei die geforderte Einsparung zu schaffen, meinte Ofner.

Wirtschaftsbund

„Die Reorganisation der Sozialversicherung ist zu befürworten. Mit dem heute präsentierten Fünf-Träger-Modell wird der Grundstein für eine nachhaltige Reform gelegt, und die berufsständischen Besonderheiten der öffentlichen Bediensteten, Unselbständigen und Selbständigen werden so berücksichtigt“, begrüßt Wirtschaftsbund-Generalsekretär René Tritscher die Einigung. Es sei zu begrüßen, dass die Beitragseinhebung bei der Sozialversicherung verbleibe und die Beitragsprüfung in Zukunft effizienter organisiert werden solle. Durch Einsparungen in der Verwaltung und effizientere Prozessabläufe komme die geplante Sozialversicherungsreform in erster Linie den Menschen in Österreich zugute.

Arbeiterkammer

Das funktionierende Gesundheitswesen werde mutwillig aufs Spiel gesetzt, um den Einfluss der Arbeitnehmer-Vertretungen zurückzudrängen und die Macht der Unternehmer und der Regierenden zu stärken, ist OÖ AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer überzeugt. „Die vom Bundeskanzler zum größten Reformprojekt in der Geschichte Österreichs stilisierte Zusammenlegung der SV-Träger entwickelt sich zum größten Angriff auf Arbeitnehmer in der Zweiten Republik.“ Was die Regierung vorgestellt habe, sei unprofessionell, mache aus neun Kassen zehn, lasse letztlich Leistungskürzungen befürchten und verschleiere die Kontrolle und die Transparenz für die Versicherten, kritisiert AK-Präsidentin Renate Anderl. Kein Konzern, kein großes Unternehmen würde eine umfassende Reform so angehen. „Es reicht nicht, einer Organisation einen neuen Mantel zu verpassen, sondern es bedarf einer fundierten Analyse über die Prozesse und die Leistungen. Das geht aber nur mit intensiver Detailarbeit und nicht mit Überschriften“, sagt Anderl.