Die Geschosse fliegen tief – kaum wurden vom Gesundheitsministerium die politischen Eckpunkte für geänderte rechtliche Rahmenbedingungen zur Umsetzung des „Primary Health Care“-(PHC-)Konzeptes präsentiert, hagelte es bereits heftige Proteste aus der Ärztekammer.
Dr. Johannes Steinhart, Vizepräsident und Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte der Österreichischen Ärztekammer sowie der Ärztekammer für Wien hat „das Papier des Gesundheitsministeriums mit Entsetzen zur Kenntnis genommen. Wir machen uns große Sorgen, denn das Thema ist wesentlich brisanter, als es zunächst erscheinen mag.“ Seine Kritikpunkte: Laut Absicht des BMG müssten Ärzte in PHC ihre Honorare mit der Krankenkasse eigenständig und einzeln verhandeln – „das ist das Ende des Gesamtvertrages!“ Dabei könnten die Kassen die Höhe der auszubezahlenden Beträge individuell festlegen und auch darüber entscheiden, wer welche Leistungen verrechnen darf.
Des Weiteren: „Gemeinsam mit dem Land und ohne Einbeziehung der Ärztekammer soll von den Kassen über Primärversorgungstandorte entschieden werden. Im Stellenplan ersetzen diese dann sukzessive die bestehenden Allgemeinmediziner-Planstellen. Das bedeutet Zentralisierung der kassenärztlichen Medizin und den Verlust einer wohnortnahen Versorgung“, so Steinhart.
Und nicht zuletzt: „Institute und Ambulatorien – also Wirtschaftsbetriebe – sind niedergelassenen Ärzten gegenüber gleichberechtigt. Dadurch konkurrieren künftig größere Kapitalgesellschaften, die auch über Jahre hinweg Verluste akzeptieren können, mit selbständigen niedergelassenen Ärzten“, so Steinhart.
Auch Dr. Thomas Holzgruber, Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien, ortet Abweichungen vom Originaltext: „Mit dem Konzept ‚Das Team rund um den Hausarzt‘ gibt es bereits jetzt einen ausverhandelten Kompromiss für einen Vertrag für Primärversorgungszentren (PHC-Zentren) zwischen Bund, Ländern, Sozialversicherungen und Ärztekammer. Umso mehr Verwunderung und Unverständnis herrsche nun in der Ärztekammer darüber, dass sowohl das Gesundheitsministerium als auch die Sozialversicherungen „ein eigenes PHC-Gesetz einführen möchten, das in wesentlichen Punkten vom vereinbarten Papier abweicht. Im Konzept „Das Team rund um den Hausarzt“ ist in Bezug auf das Vertragsrecht festgehalten, dass für die neuen Primärversorgungsstrukturen eine eigenständige gesamtvertragliche Vereinbarung abzuschließen ist. Weiters ist in dem Konzept festgehalten, dass für den Fall, dass eine solche gesamtvertragliche Vereinbarung nicht zustande kommt, von der Sozialversicherung Sonder-Einzelverträge mit Zustimmung der zuständigen Ärztekammer abgeschlossen werden können. Ebenfalls im sechsten Teil des ASVG ist geregelt, dass die Ärztekammer ein Mitspracherecht in Bezug auf den Stellenplan hat. Alle diese im Jahr 2014 vereinbarten Punkte fehlen nun im neuen Papier, das Grundlage für ein eigenes PHC-Gesetz ist.“
Ein weiterer juristischer Konsens wurde bei der Umsetzung des PHC MedizinMariahilf, dem ersten Pilotprojekt auf Basis des Konzepts „Das Team rund um den Hausarzt“, zwischen der Wiener Gebietskrankenkasse, der Stadt Wien und der Wiener Ärztekammer getroffen. „Seit jeher gibt es die Möglichkeit, in den Einzelverträgen von Kassenärzten bzw. von Kassengruppenpraxen im Einvernehmen zwischen dem Arzt bzw. der Gruppenpraxis und der Sozialversicherung mit Zustimmung der Ärztekammer individuelle Regelungen für die Leistungserbringung im Kassensystem zu treffen. Dieses juristische Instrument hat sich bereits in den letzten Jahrzenten immer wieder bewährt und wurde auch bei der Umsetzung des PHC MedizinMariahilf herangezogen, um Rechte und Pflichten des PHC MedizinMariahilf zu regeln. Diese juristischen Kompromisse belegen eindeutig, dass es einen Konsens zwischen allen Beteiligten geben kann, die Ärztekammer sich nicht prinzipiell gegen neue Formen der Versorgung verschließt und für die Umsetzung von PHC-Zentren kein eigenes Gesetz erforderlich ist“, meint Holzgruber.
Steinhart: „In letzter Konsequenz wird die Ärztekammer auch nicht davor zurückschrecken, zu drastischen Mitteln zu greifen und die Gesamtverträge mit den Gebietskrankenkassen kündigen. Werden die drohenden neuen Bedingungen tatsächlich umgesetzt, ist es für die niedergelassene Ärzteschaft in Österreich nicht mehr möglich, im Kassensystem weiterzuarbeiten. Die Bundeskurie niedergelassene Ärzte hat dafür bereits einen Empfehlungsbeschluss gefasst und ruft die Länderkammern dazu auf, die notwendigen Vorbereitungen für die Kündigung der Verträge zu treffen.“
Auch ÖGAM-Präsident Dr. Christoph Dachs ortet Knackpunkte: „Das PHC-Gesetz ist aus meiner Sicht notwendig, um den zukünftigen allgemeinmedizinischen Versorgungsstrukturen eine gute, rechtliche Grundlage zu geben. Da gibt es, glaube ich, einen breiten Konsens. Das Problem ist, dass in diesem Gesetzesentwurf die Möglichkeit besteht, dass Sozialversicherung und Politik ohne Zustimmung der Ärztekammer eigene Verträge mit PHC-Einheiten abschließen können, auch außerhalb des Stellenplans. Das ist der Knackpunkt, den es zu lösen gibt, und ich glaube, das wird mit konstruktiven Verhandlungen auch passieren.“
Was nicht in diese Debatte hineingehöre, sei, dass von mancher Seite PHC in Frage gestellt werde. Dachs: „Immer noch gibt es eine Unklarheit des Begriffes „PHC – primary health care“, das nichts anderes aussagt, als dass die Strukturen der Grundversorgung neu und modern gestaltet werden. PHC ist nicht automatisch ein Zentrum und soll in den Händen der Ärzte bleiben, ob es sich Vernetzungen von Einzelpraxen oder Gemeinschaftspraxen unter einem Dach handelt.“ Er bekennt sich zu PHC: „PHC ist aus unserer Sicht die Zukunft für die Allgemeinmedizin und das gesamte Gesundheitssystem, um die Kostenexplosion in den Griff zu bekommen und eine qualitativ hochwertige und effiziente Medizin zu ermöglichen. Dafür braucht es einen Vertrag, der für alle PHC Einrichtungen gleich ist, da die Gefahr besteht, dass es mit Einzelverträgen zu einer Entsolidarisierung der Ärzteschaft kommt.“ Allerdings räumt er ein: „Wenn das Gesetz in dieser vorgelegten Form durchgeht, ist die Gefahr einer zentral gelenkten Staatsmedizin und/oder Privatisierung durch Großkonzerne meiner Meinung nach sehr wohl gegeben.“
Einer aktuellen Patientenumfrage zur primären Gesundheitsversorgung zufolge ist es übrigens 98% der Österreicher wichtig, ihren Hausarzt selbst auswählen zu können. 65% der Befragten wollen nicht, dass zum Beispiel eine ausgebildete Krankenschwester entscheidet, ob eine Untersuchung durch den Arzt erfolgt oder gleich ein Rezept ausgestellt werden soll. Eine noch größere Ablehnung gibt es gegenüber der Idee, dass Arztordinationen beziehungsweise PHC-Zentren auch von Unternehmen, die ursprünglich nicht aus dem medizinischen Bereich kommen, geführt werden sollen: 86% halten dies für eher oder überhaupt nicht sinnvoll.