Wir haben die formale Gleichstellung mit den anderen Fächern erreicht. Nun ist der nächste Schritt fällig: eine nachvollziehbare Beschreibung unserer Fachinhalte. Noch wird von vielen Seiten kein Unterschied erkannt zwischen der „guten alten Allgemeinmedizin“ und der modernen Allgemein- und Familienmedizin. Das ist falsch, kontraproduktiv und hinderlich. Also werden wir es ändern.
Ein Blick auf die Geschichte erklärt sowohl das Problem als auch die Lösung. Medizin war Allgemeinmedizin – über Tausende von Jahren. Die Spezialisierung ist erst spät in der Geschichte der Medizin entstanden, mit hoher Dynamik im Gefolge der Aufklärung seit dem 18. Jhd. Die Allgemeinmediziner:innen waren von nun an jene ohne Spezialfach:
Die Ursache für den Bedeutungsverlust der Allgemeinmedizin war die Spezialisierung mit der Strahlkraft ihrer anhaltenden Erfolge. Weil wir aber halt auch da waren – und da blieben, trotz diverser Einbrüche, weil die Patient:innen uns ganz offensichtlich wollten und brauchten, ohne dass so ganz genau formuliert war, was eigentlich unser Auftrag war –, wurde uns eine Reihe von Aufgaben zugeschrieben: Wir werden als Erstversorger:innen gesehen, als Koordinator:innen und Drehscheibe (was nicht ganz falsch ist, aber ganz unvollständig), als die, die von allem ein bisschen was wissen und können (sollen) – aber als eine Art Ein- und Durchgangsstation funktionieren. Und hier wird’s natürlich völlig falsch.
Die spezialisierte Medizin hat enormen Fortschritt geschaffen. Grenzen, ja Gefahren für ihren Nutzen liegen jedoch in der resultierenden Zersplitterung. Fragmentierung führt zu Informationsdefiziten, zu Über- und Unterbehandlung, zu Wechselwirkungen, Compliance-Defiziten und Überbeanspruchung von Ressourcen. Patient:innen wollen als Individuen gesehen werden, in Integrität und Würde.
Nun wird die Entwicklung zu Sub- und Sub-Sub-Spezialisierung zur Ursache für die Wiederbelebung der Allgemein- und Familienmedizin:
Die Allgemein- und Familienmedizin ist zuständig für Entfragmentierung, Kontextualisierung und Individualisierung.
Unser Fach unterscheidet sich damit fundamental von allen anderen Disziplinen und Professionen. In der Abklärung von Verdachtsdiagnosen, in den Behandlungsregimen einzelner diagnostizierter Krankheiten ohne Komplexität unterscheidet sich unser Vorgehen nicht wesentlich von dem der Spezialfächer. Was uns unterscheidet, ist die Abklärung mehrdeutiger, undifferenzierter Symptome, bis eine Verdachtsdiagnose überhaupt erreicht wird, der Umgang mit komplexen Situationen – psychischen und sozialen Einflüssen, Lebenszusammenhängen, Wertewelt, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, Einflüssen von Krankheiten und Risiken aufeinander – und der Umgang mit Multimorbidität und Polypharmazie, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen. Die meisten Definitionsversuche beschreiben diese Tatsache – aber recht diffus, mit der „ Zuständigkeit für den ganzen Menschen“, der „personenbezogenen Medizin“ u. ä. Diese Definitionen beschreiben eher eine Grundhaltung und geben wenig Auskunft über die spezifischen, konkreten Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden, die uns die Erfüllung der genannten Aufgaben abverlangt. Diese müssen viel besser dargestellt werden und in eine lehrbare, verbindliche Methodologie einfließen.
Das betrifft vor allem folgende spezifische Bereiche: den diagnostischen Prozess– vom Symptom beginnend, den Beratungsprozess in seiner Mehrdimensionalität, den Prozess der Entscheidungsfindung in der Komplexität, den Prozess des Managements chronischer, multipler und unheilbarer Krankheiten inkl. des Medikationsprozesses.
Das Fazit ist so einfach wie selbstverständlich – es muss nur den Weg in alle beteiligten Köpfe finden:
Die generalistische Medizin funktioniert gut, wenn die spezialistische Gesundheitsversorgung ihre speziellen Aufgaben erfüllt.
Die spezialistische Gesundheitsversorgung funktioniert gut, wenn die generalistische Medizin ihre speziellen Aufgaben erfüllen darf. Und nur dann.
Ein ausführlicher Beitrag dazu ist unter link.springer.com/article/10.1007/s00508-024-02422-5 publiziert.