Der Ausbau von Primärversorgungseinheiten (PVE) ist das Kernelement von Reformbemühungen im Gesundheitswesen. Das Konzept wurde bereits in der ersten Periode der Zielsteuerung von Ländern und Sozialversicherung 2013–2016 gestartet. Allerdings kam das Programm bisher nicht wirklich ins Laufen. Bis 2023 sollten es 75 neue Primärversorgungseinheiten sein, tatsächlich sind es erst 39. In Vorarlberg und Tirol gibt es noch gar keine Einheiten. Dabei hatten Länder und Sozialversicherung 200 Millionen Euro zweckgewidmet für den Ausbau, mit den Pandemiemitteln der EU kamen noch einmal 300 Millionen dazu. Durchgerechnet wären das satte vier Millionen pro PVE.
Die Mittel sollten zur Anschubfinanzierung (etwa Investitionskosten) oder zur Finanzierung eines Mehraufwands gegenüber dem Status quo (beispielsweise für ein erweitertes Leistungsangebot) dienen, bilanziert der Rechnungshof in einem neuen Bericht, der der Ärzte Krone vorliegt. Doch mit Stand Ende 2021 versorgten die damals gerade einmal 29 Primärversorgungseinheiten satte 3,29 Prozent der Bevölkerung.
Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) kritisiert vor allem die Ärztekammer und stößt sich am Vetorecht gegen Primärversorgungseinheiten. „Die Ärztekammer ist ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiger Vertreter der Interessen, nämlich der Interessen der Ärzteschaft“, sagte Rauch und führte weiter aus: „Da geht es sehr viel ums Bewahren und nicht so sehr um eine zukunftsfähige Gestaltung.“ ÖGK-Vizeobmann Andreas Huss, der sich zuletzt in der Ärzteschaft mit seiner Kritik an Wahlärzt:innen nicht gerade beliebt gemacht hat, legte nach: „Auf österreichischer Ebene wurde lange Zeit der Ausbau der Primärversorgungseinheiten verzögert, sodass es in manchen Bundesländern wie Tirol und Vorarlberg noch immer keine einzige gibt.“ Ralph Schallmeiner, Gesundheitssprecher der Grünen, pflichtete der Kritik bei. „Statt konstruktiv an der Verbesserung der Patient:innen-Versorgung mitzuwirken, kommt bei fast allen wichtigen Themen immer nur ein ‚Nein‘ aus der Weihburggasse. Eine Haltung, die auch viele Mediziner:innen im persönlichen Gespräch nicht mehr nachvollziehen können“, meinte er.
Dr. Edgar Wutscher, ÖÄK-Vizepräsident und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, sieht die Gründe differenzierter: „Im städtischen Bereich sind PVEs zielführend und auch etwas leichter umsetzbar – in ländlichen Gebieten muss man sich die Sache aber schon noch etwas genauer anschauen. Wenn zwei Ortschaften weiter eine neue PVE entsteht, aber gleichzeitig im Ort kein Allgemeinmediziner mehr gefunden werden kann, ist die Sinnhaftigkeit zu überdenken. Das kann Patientinnen und Patienten, die nicht mehr so mobil sind, vor große Probleme stellen“, sagte er. Gleichzeitig gebe es für die Errichtung von Primärversorgungseinrichtungen viel zu starre Regelungen, erklärte Wutscher: „Es ist aus unserer Sicht unverständlich, warum bei Pensionierung eines Arztes in einer PVE die beiden übrigen nicht frei wählen dürfen, wen sie als Nachfolger dazuholen. Stattdessen ist es aktuell so, dass eine Zwangsverheiratung mit dem nächstgereihten Arzt arrangiert wird. Das ist unzumutbar, schließlich überlegt man sich genau, mit wem man die nächsten Jahre und Jahrzehnte zusammenarbeiten möchte.“ Das sei nur ein Beispiel für die zu starren Regelungen.
Die Zahl der Kassenärztestellen lege die Landeszielsteuerungskommission über die RSG (Regionale Strukturpläne Gesundheit) fest, Ärztekammern und Sozialversicherung kümmern sich konsensual um die Ausgestaltung dieser Kassenstellen, erklärt MR Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen und der Wiener Ärztekammer: „Es sitzen zwei Parteien am Tisch, die auf Augenhöhe miteinander verhandeln und Gespräche führen – das ist es. Bislang war dieser Weg erfolgreich und von gegenseitigem Respekt geprägt.“ In Wien laufe gerade eine große PVE-Offensive, „bis zur Jahreshälfte 2023 sind bereits fünf weitere Eröffnungen geplant.“ Zudem habe man auch schon ein eigenes Konzept für PVE für Kinderheilkunde ausgearbeitet, betont Steinhart.
Doch die Probleme sind breit. Gravierend ist etwa, dass sich die Stakeholder allesamt uneinig darüber sind, was PVE eigentlich sein sollen. Für die Länder sind es primär Entlastungen für Spitalsambulanzen, für die Krankenversicherungen zusätzliche Versorgungsangebote im allgemeinmedizinischen Bereich. Nicht zuletzt deshalb werden dafür auch Planstellen herangezogen. „Primärversorgungseinheiten waren im Stellenplan abzubilden – was die Zustimmung der zuständigen Ärztekammer erforderte – und mussten über einen Vertrag mit der ÖGK verfügen“, erklärt nun der Rechnungshof. Das Ziel der Kassen: längere Öffnungszeiten und Entlastung der dort arbeitenden Allgemeinmediziner:innen. Ein wirkliches Konzept fehlt aber bis heute. Lange Zeit fehlte zudem ein bundesweiter Gesamtvertrag zwischen dem damaligen Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und der Österreichischen Ärztekammer. Den gab es erst am 2. April 2019 als Rahmenvertrag, der die Hauptpunkte der neuen Primärversorgung, die österreichweit gelten, regelt. Er lässt aber regionale Spielräume offen, die es erlauben, auf lokale Bedürfnisse eingehen zu können. Doch die mussten erst ab dem April 2019 dann auf Ländereben verhandelt werden – ebenso wie für jedes Land eine eigene Honorarvereinbarung, kritisiert der Rechnungshof.
Er weist zudem darauf hin, dass insbesondere die Unkündbarkeit der Vertragspartner:in-nen „die wirtschaftlichen Risiken im Falle eines Zusammenschlusses und die Zustimmungspflicht der Landesärztekammer (für monetäre Anreize in den gesamtvertraglichen Honorarvereinbarungen) die Einführung der Primärversorgung vor große Herausforderungen stellte“. Die Prüfer:innen beurteilten daher kritisch, dass „keine konkreten Konzepte für die Umgestaltung des Versorgungssystems (beispielsweise Gewinnung von Vertragspartnerinnen und -partnern für Modelle der Primärversorgung beziehungsweise Integration in das bestehende System) erstellt und keine entsprechenden Maßnahmen gesetzt“ wurden.
Die Empfehlungen der Prüfer:innen an das Gesundheitsministerium und die ÖGK: „Für den weiteren Ausbau der Primärversorgung ist eine Strategie zur Forcierung von Primärversorgungsnetzwerken, zur Gewinnung von neuen Vertragspartnerinnen und -partnern und zur Umsetzung der Vergütungsziele zu entwickeln“ und „auf eine zeitnahe Umsetzung in den Rechtsgrundlagen hinzuwirken“. Anders formuliert: Das Konzept für die PVE muss tiefgreifend überarbeitet werden, damit es für Ärzt:innen attraktiver wird.