Hausärzte hielten auch in Pandemie- und Shut-down-Zeiten weitgehend die Primärversorgung aufrecht. Standen am Anfang vor allem seuchenpräventive und logistische Ziele (Patiententriage, das Freihalten der Spitalseinrichtungen, Verhindern von Verbreitung) und als größte zu bewältigende Herausforderung der eklatante Ausrüstungsmangel im Vordergrund, zeigen sich jetzt zunehmend die Folgen des Shut-downs. Zum einen in medizinischer Hinsicht: Immer wieder wird von Allgemeinmedizinern, zunehmend aber auch von Vertretern verschiedener Fachgesellschaften auf einen möglichen Kollateralschaden hingewiesen: Gerade chronisch Kranke dürften von der Versorgung teilweise abgeschnitten gewesen sein, waren doch Ambulanzen und viele Fachärzte nur sehr eingeschränkt oder gar nicht erreichbar.
Bereits zu Beginn des Shut-downs, als offiziell noch ein Zurückfahren propagiert wurde, hat sich der Präsident der ÖGAM, Dr. Christoph Dachs, an die Öffentlichkeit gewandt und im Namen der Allgemeinmediziner ein Bekenntnis zum Aufrechterhalten der Grundversorgung abgegeben sowie auf die Bedürfnisse der chronisch Kranken hingewiesen.
Auch Dr. Susanne Rabady, ÖGAM, verweist auf vermehrt schwere Erkrankungen, die erst mit Verspätung in allgemeinmedizinischen Ordinationen gesehen werden, wie etwa verschleppte Pyelonephritiden oder Pneumonien und vieles mehr – und das betreffe auch Kinder. Wie viele es wirklich sind, ist schwer zu sagen. Berichte über solche Kollateralschäden können, so Rabady, bis auf Weiteres nur anekdotisch bleiben, weil valide Zahlen fehlen. Denn wissenschaftliche Auswertungen sind bislang ebenso wenig verfügbar wie genaue statistische Zahlen zu den Öffnungsraten. (Zwar werden die Öffnungsraten mit beachtlichen rund 90 % beziffert; die Zahl basiert jedoch nur auf den offiziellen Vertretungsmeldungen.)
Zunehmend mehren sich auch aus den einzelnen Fachrichtungen Stimmen, die auf Versorgungslücken hinweisen. Vor kurzem ließ Prof. Klemens Rappersberger, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Dermatologie, aufhorchen, dass etliche Melanome jetzt um 3 Monate zu spät diagnostiziert würden. Auch Prof. Kurt Redlich, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie, sieht Versorgungslücken und berichtet von etlichen Patienten, die nun schwere Schübe und Verläufe hätten. Zwar stand die Möglichkeit für Tele-Konsultationen zur Verfügung, doch das ersetze nicht die kontinuierliche Betreuung. In Vorbereitung auf eine mögliche weitere Welle müsse der Fokus daher auf beidem liegen: auf der Verhinderung der Ausbreitung UND der Aufrechterhaltung der Versorgung.
„Was wir im Moment wissen, ist, dass uns das Virus lange Zeit begleiten wird, möglicherweise für immer, und dass wir eine langfristige Strategie brauchen, zwischen Normalität und einer gewissen Vorsicht“, sagt Christoph Dachs im Interview (siehe unten).
Ob es nun darum geht, für eine zweite Welle gerüstet zu sein oder mit dem Virus umgehen zu lernen, Allgemeinmediziner plädieren für eine Analyse der Stärken, aber auch der Schwachstellen.
Abgesehen vom Problem der zu Beginn der Pandemie noch fehlenden Schutzausrüstung (mittlerweile kein Thema mehr, wie von vielen Seiten bestätigt wird) wird von vielen Ärzten zunehmend auch die Funktion von 1450, ursprünglich als Erstkontaktstelle gedacht, besonders kritisch hinterfragt. So gab es – in den Bundesländern zwar unterschiedlich – nach einem positivem Abstrich für viele Betroffene oft gar keine weitere Betreuung oder Behandlung. Bestätigte Fälle wie auch Verdachtsfälle durften ja nicht zum Hausarzt – und dieser nicht zu ihnen, was von vielen Allgemeinmedizinern besonders kritisiert wird.
Dazu kommen bundesländerweise weiterhin unterschiedlich praktizierte und damit letztlich intransparente Testkriterien. Die Entscheidung, wer getestet wird, obliegt 1450, nicht dem Arzt. Leichter ist es nur für jene Ärzte, die am Sentinel-Netzwerk Influenza teilnehmen, in dem seit 24. Februar alle Abstriche neben Influenza auch auf SARS-CoV-2 getestet werden. Die nächste Schwierigkeit: Die Behörde setzt vom Ergebnis des Tests nur den Betroffenen, nicht aber den Arzt in Kenntnis.
Eine zentrale Forderung lautet daher: die Testung von ärztlicher Seite sowie auch selbst Visiten fahren zu können. Und last, not least: die Information von der Behörde
Um für die nächste Welle besser gerüstet zu sein, müssen Strukturen geschaffen werden, um alle Patienten – mit oder ohne COVID – optimal behandeln zu können, dazu zählen auch Testmöglichkeiten und Visitentätigkeit. Die Ärzte Krone sprach mit Dr. Christoph Dachs, dem Präsidenten der ÖGAM.
Christoph Dachs: Die Herausforderung sehe ich darin, nicht jedes Fieber mit COVID zu assoziieren. Natürlich sind wir hellhörig und haben mittlerweile sehr viel gelernt. Wir wissen, dass die Erkrankung gewissermaßen ein Chamäleon sein kann. Am Anfang standen als klassische Merkmale hohes Fieber, Atemnot und Husten im Vordergrund. Heute wissen wir, dass die Symptome genauso Geschmacksstörungen, Durchfall und Halsschmerzen sein können. COVID kann aber auch a- oder oligosymptomatisch auftreten. Das macht es für uns etwas schwieriger.
Aber umso wichtiger ist es, eine Struktur zu schaffen, um Patienten mit COVID-Verdacht im Vorfeld herausfiltern und isoliert behandeln zu können.
Dazu gehört beispielsweise auch, einen Abstrich selbst durchführen und selbst ins Labor schicken zu können. Dazu gehört auch die Visitentätigkeit. Gleichzeitig dürfen wir nicht auf die anderen Patienten vergessen! Hinter einem fieberhaften Infekt kann sich auch eine Pneumonie verbergen. Wir müssen unsere chronischen Patienten weiterhin gut betreuen. Und wir sollten die positiv getesteten Patienten nicht als Aussätzige behandeln. Ich habe erlebt, dass Patienten, die einmal positiv getestet wurden, zu keinem Arzt mehr vorgedrungen sind. Wir wollen Hausärzte für alle Patienten bleiben, das ist unsere Grundaufgabe.
Das wichtigste Ziel muss die Stärkung der Allgemeinmedizin sein, und diese gut auszurüsten. Dazu muss es die Möglichkeit der Testung von unserer Seite, der Visitentätigkeit et cetera geben.
Insgesamt muss man darüber nachdenken, wie in Zukunft vorzugehen ist. Das berührt viele Dinge, auch das Thema Gesundheitskompetenz des Einzelnen. Nicht jeder banale Schnupfen bedarf einer ärztlichen Konsultation.
Die Situation zeigt zwei Seiten: Einerseits blieben Patienten mit Banalitäten aus; das ist durchaus positiv. Die Kehrseite ist jedoch, dass sich sicher auch einige chronisch Kranke und Schwerkranke nicht zum Arzt getraut haben oder auch – vor allem bei Fachärzten – nicht vorgedrungen sind.
Im Großen und Ganzen ist es für diese eher unerwartete Situation gut gelaufen. Im Detail möchte ich mich nicht äußern, da es in Österreich zurzeit jede Menge Experten gibt. Ich zähle mich nicht dazu …
Es geht nun darum, zu analysieren: Was benötigen wir in Zukunft, um mit Krisensituationen umgehen zu können? Was haben wir gelernt, was muss die Politik lernen, was die Krankenkassen? Hier müssen wir gemeinsam offensive Manöverkritik betreiben, auch selbstkritisch von unserer Seite.
Es ist wichtig, zu betonen: Wir sind den Patienten und der Gesundheit der Bevölkerung verpflichtet, wir sind aber natürlich auch uns verpflichtet, gesund zu bleiben. (In Italien sind nicht wenige Ärzte und Pflegepersonen an COVID verstorben, das gilt es natürlich zu verhindern; allerdings haben die ohne Schutzausrüstung und ohne entsprechende Vorbereitung Patienten behandelt.)
Was wir im Moment wissen, ist, dass uns das Virus lange Zeit – möglicherweise für immer – begleiten wird und dass wir eine langfristige Strategie brauchen zwischen Normalität und einer gewissen Vorsicht. Konsequentes Monitoring ist sicher ein wichtiger Weg, um rasch auf lokale Ausbrüche reagieren zu können: Bisher waren wir in Österreich keine Weltmeister im Sammeln und Aufarbeiten von Gesundheitsdaten, das wird sich möglicherweise ändern. 1450 war und ist ein möglicher Erstkontakt, ersetzt aber auf keinen Fall den Hausarzt.