Zwischen „Es war einmal …“ und „Wie wird es wohl werden …?“

Der Mutter-Kind-Pass ist eine Erfolgsgeschichte. Sie erzählt nicht nur von den Auswirkungen, sondern auch von den Weiterentwicklungen. Wie ungewohnt ist es, das lange gültige Querformat wieder in der Hand zu halten, das Zeugnis ablegt von dem, was damals wichtig und revolutionär war.

Wenn Mütter heute den Mutter-Kind-Pass im handlichen Passformat erhalten, erleben wir ärztlicherseits unterschiedliche emotionale Reaktionen und Bedeutungsgebungen. Es kann die Freude über die Sichtbarkeit sein z.B. nach langem Warten, ein bestätigendes Dokument zu haben und das Glück zu empfinden, diese neue Wirklichkeit auch nach außen tragen zu können. Manchmal braucht es aber auch noch den Schutz des Geheimnisses und die Zeit für sich persönlich. Dann sollen wir den gelben Pass schon im Ordinationsraum aushändigen, damit er für das Umfeld zunächst unsichtbar verwahrt werden kann. Oder: Die Eintragungen werden mit der Woche einer unerwarteten Fehlgeburt oder wegen fehlender Lebenszeichen oder einer Totgeburt vorzeitig beendet. Die übrigen vorgesehenen Felder müssen dann leer bleiben. Dieses für die Eltern unerwartete kritische Lebensereignis kann dann durch die verlässliche, kontinuierliche hausärztliche Beziehung den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer emotionalen Situation entsprechend begleitet werden.

Die nun im neuen Eltern-Kind-Pass in der SSW 14–17 vorgesehene allgemein- und familienmedizinische Untersuchung, welche die bisherige Untersuchung in einen größeren Rahmen setzt, nutzt die familienmedizinische Kompetenz von uns Hausärzt:innen. Fragen nach dem Erhofften und Befürchteten, nach dem, was Freude macht, jedoch auch Angst auslöst, nach dem, was ersehnt wird oder unerwartet herausfordert, können vorsorgend zur Sprache gebracht werden. Aber auch anlässlich der Untersuchung des Kindes können wir oftmals die erfreuliche, sicherheitgebende Nachricht einer gesunden Entwicklung vermitteln, die besonderen Stärken eines Kindes erfragen und je nach den Bedürfnissen unterstützend, ermutigend, informierend und fragend reagieren. Es gilt, mit geteilter Aufmerksamkeit auf das zu achten, was besondere Unterstützung oder weitere Abklärung oder manchmal auch koordinierende hausärztliche Begleitung benötigt.

Im hausärztlichen Gespräch haben sich die Fragen und Anforderungen durch die gesellschafts- und gesundheitspolitischen Entwicklungen im Laufe der Zeit verändert. Wurde z.B. der Mutter-Kind-Pass zu Beginn seiner Einführung nicht von allen Frauen in Anspruch genommen, da sie eine Schwangerschaft als etwas Natürliches ansahen, wollen aktuell z.B. nicht alle Eltern aus unterschiedlichen Gründen das kostenfreie Impfangebot für ihr Kind in Anspruch nehmen.

Das kommende digitale Format fordert auch von uns Ärzt:innen eine Weiterentwicklung. Frauen, denen ich von dieser bevorstehenden Veränderung erzähle, schauen mich ungläubig an und reagieren manchmal mit Bedauern, da sie noch eine emotionale Bindung an das gelbe Büchlein haben und es dann auch danach ins Bücherregal stellen wollen. Sichtbarkeit und Wahrnehmung werden sich weiter verändern. Wünschenswert wäre es, für die Zukunft die Untersuchungen bis in das Jugendalter hinein fortzusetzen. Wenn die derzeit jungen Eltern in 50 Jahren auf unsere heutige Zeit zurückschauen, werden vielleicht auch sie erstaunt und schmunzelnd die verschiedenen Veränderungen kommentieren. Was werden sich dann die Mütter in 50 Jahren denken, wenn sie an das heutige gebräuchliche Layout und den Inhalt zurückdenken? Das uns jetzt Vertraute weicht dem Zukünftigen und ermöglicht Neues, z.B. bessere Vergleichbarkeit, Daten- und Erkenntnisgewinn. Was hoffentlich bleiben wird, ist die ärztliche Beziehung, gemeinsam mit den Eltern für etwas Drittes, das Ungeborene oder das älter werdende Kind, aus den verschiedenen Rollen heraus zu sorgen und vorzusorgen und hausärztlicherseits Wissen um die biopsychosozialen Zusammenhänge einzubringen.