Der Entscheid des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) im Dezember 2020, das Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung aufzuheben, bedeutet eine Zäsur. Bislang galt der Tod dann als menschenwürdig, wenn alles unternommen wird, um Menschen in Krankheit und existenziellen Krisensituationen ihre Angst zu nehmen, Schmerzen zu lindern und Beistand zu leisten. Nun steht auch Tötung als mögliche Option im rechtlichen Raum. Damit wird das bisherige Selbstverständnis von Medizin und Pflege in Frage gestellt. Die Berufsgruppen sind darauf noch kaum vorbereitet, auch das Vorgehen innerhalb der Institutionen ist weitgehend offen. Der Gesetzgeber hatte weniger als 12 Monate Zeit, einen Entwurf vorzulegen, der vor Missbrauch schützen soll. Dies ist nur zum Teil gelungen, wie die zahlreichen Stellungnahmen zum „Sterbeverfügungsgesetz“ (StVfG) zeigen.
Ein Gesetz mit vielen Fragezeichen: Bei genauerem Hinsehen ergeben sich nämlich zahlreiche Fragezeichen:
Es ist bedauerlich, dass der Gesetzgeber auch Personen mit einer schweren, dauerhaften, aber nicht lebensbedrohlichen Krankheit als Zielgruppe des StVfG nennt. Die gefährdetste Gruppe dabei sind nämlich Ältere und Hochaltrige. Auf diese wird der Druck eines sozialverträglichen Frühablebens steigen. Ältere Menschen sind chronisch beeinträchtigt, sehen und hören schlecht, leiden an Rheuma, Altersdiabetes und können vielleicht die Wohnung nicht mehr allein verlassen. Sie fühlen sich vereinsamt, als Last und als Kostenfaktor. Vielleicht steckt auch eine unentdeckte Altersdepression dahinter. Ist dieses schwere anhaltende Leiden schon hinreichend für einen begleiteten Alterssuizid? Wohin dieses Konzept führt, zeigt die Schweiz. Dort verdreifachte sich die Zahl der assistierten Suizide seit 20102, mit 1.176 liegt diese Zahl bereits über der Anzahl der „normalen“ Suizide (1.002). 88,5 % aller assistierten Suizide werden von Senioren (65+) begangen. Verliert die Gesellschaft die Geduld mit den Alten?
Angesichts der neuen Gesetzeslage zur Beihilfe zum Suizid stellen sich Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und MitarbeiterInnen in Langzeit-, Hospiz- und Palliativeinrichtungen die Frage, wie sie mit Todeswünschen von PatientInnen umgehen sollen. Gespräche über den Tod, über das Sterben und über Wünsche für das Lebensende sind vielfach selbst in Krankenhäusern und Pflegeheimen ein Tabu. Wie werden Sterbewünsche überhaupt wahrgenommen? Was bedeuten sie? Wie soll man darauf reagieren? Wie werden zeitliche Ressourcen für diese Gespräche strukturell eingeplant und ermöglicht? Es gibt ganz unterschiedliche Arten und Ausprägungen von Todeswünschen mit unterschiedlichem Handlungsdruck und verschiedenen Funktionen. Nicht jeder Mensch, der einen Sterbewunsch äußert, will auch wirklich sterben. Daher sollten Suizid- oder Sterbewünsche nicht als pure Handlungsaufforderung verstanden werden. Im Umgang mit PatientInnen mit Todeswünschen empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP, September 2021) Folgendes:3
1. Wahrnehmen: Todeswünsche und Wünsche nach Suizidhilfe sollten wahrgenommen und entsprechende Andeutungen proaktiv angesprochen werden. Das wird von vielen als Erleichterung empfunden. Es braucht dazu eine Haltung des Respekts, der Offenheit und des Mitgefühls im Gespräch über Todeswünsche. Diese bedeutet nicht notwendigerweise eine Zustimmung zur aktiven Beendigung des Lebens.
2. Verstehen: Was steckt hinter dem Todeswunsch? Er kann unterschiedliche Motivationen haben: Manifestation eines Lebenswunsches, Erleben einer unerträglichen akuten Situation, der man sich entziehen will, Wunsch nach letzter Kontrolle, nach Aufmerksamkeit, Ausdruck von Altruismus, Manipulation der Familie, um Einsamkeit vorzubeugen, ein Schrei der Verzweiflung usw.4
3. Angebote machen: Auslöser für einen Suizidwunsch ist häufig nicht die aktuelle Belastung durch die Symptome, sondern „die Angst vor dem Leid, das noch kommt (nicht die Atemnot heute, sondern die Angst vor dem Ersticken, wenn die Atemnot in Zukunft noch stärker wird)“. PatientInnen sollten daher rechtzeitig über die Möglichkeiten der Symptomlinderung in der Palliativversorgung und über psychosoziale Unterstützungsangebote informiert und beraten werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit einer palliativen Sedierung. Das Wissen um diese „Letztversicherung“ biete auch PatientInnen mit Ängsten vor zukünftig befürchteten Symptombelastungen die wichtige Sicherheit einer Linderungsperspektive, heißt es in den DGP-Empfehlungen.
4. Suizidprävention: In der Praxis wenden sich auch Menschen ohne schwere Erkrankungen an MitarbeiterInnen in Gesundheitsberufen mit der Bitte um Suizidassistenz. Betroffenen sollte der Kontakt zu niederschwelligen Einrichtungen der Krisenintervention und Suizidprävention ermöglicht werden.
Das neue Sterbeverfügungsgesetz führt in zahlreiche Dilemmata. Einerseits soll Suizidprävention geleistet, andererseits sollen Suizidwünsche respektiert und ermöglicht werden, indem jemand quasi zum Suizid „freigegeben“ wird. Das ist für Heilberufe eine Grenzüberschreitung. Daher ist niemand, auch keine Einrichtung, zur Suizidassistenz verpflichtet. Sterbewünsche am Lebensende sind komplex. Komplexe Situationen brauchen komplexe Hilfen, keine einfachen Antworten. Es ist ein Gebot der Stunde, dass sich Gesundheitsberufe verstärkt im Umgang mit Suizid- und Sterbewünschen sowie im Bereich Palliativ Care fortbilden. Wenn nichts mehr zu machen ist, gibt es noch viel zu tun (Cicely Saunders). Solidarität leben heißt, auch an den Grenzen des Lebens zusammenzustehen.