Erleben finanzieller Toxizität von onkologischen Patient:innen in öffentlich finanzierten Gesundheitssystemen

Finanzielle Toxizität

Krebs und seine Behandlung können physische, psychosoziale sowie auch praktische Probleme für Betroffene zur Folge haben. Eine praktische Folge, die in den letzten zehn Jahren an Bedeutung gewonnen hat, ist die finanzielle Belastung der Patient:innen sowie ihrer Familien. Der Begriff „finanzielle Toxizität“ wird seither verwendet, um das Leid und die Not zu beschreiben, die sich aus der finanziellen Belastung durch eine onkologische Erkrankung ergeben. Finanzielle Toxizität kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren, z. B. können sogenannte Out-of-Pocket-Kosten entstehen, d. h. direkte Ausgaben im Zusammenhang mit der Krebserkrankung und ihrer Behandlung, die nicht vom Staat oder von Versicherungen übernommen bzw. rückerstattet werden. Hinzukommen kann, dass Patient:innen und ihre Angehörigen während und nach der Krebsbehandlung oftmals für längere Zeit nicht arbeiten können. Als Konsequenz zeigt sich in empirischen Daten ein Zusammenhang zwischen finanzieller Toxizität und emotionaler Belastung sowie verminderter Lebensqualität. Bestehende Übersichtsarbeiten zur finanziellen Toxizität haben bislang weitgehend quantitative Studien fokussiert. Ein systematisch gewonnener Überblick über Ergebnisse qualitativer Studien wäre von Vorteil, um das Verständnis der Erfahrungen von Patient:innen und ihren Familien mit finanzieller Toxizität zu vertiefen.

Studienziel

Ziel war es, zu verstehen, wie Patient:innen und deren Angehörige mit einer Krebserkrankung verbundene finanzielle Belastung erleben, darauf reagieren und sie bewältigen. Dies sollte dazu beitragen, Forschungsprioritäten zu ermitteln und Maßnahmen zur Unterstützung von Betroffenen, die mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sind, zu entwickeln.

Methodik

Artikel, die zwischen 2005 und 2019 veröffentlicht wurden und finanzielle Toxizität von onkologischen Patient:innen und/oder deren Angehörigen behandelten, wurden in den Datenbanken Ovid MEDLINE, Embase, PsychInfo, CINAHL, Business Source Complete und EconLit gesucht. Eingeschlossen wurden englischsprachige Artikel mit Peer-Review, die Patient:innen mit Lungen-, Brust-, Prostata-, Kolorektal-, Blasen-, Gebärmutterhals-, Magen-, Speiseröhren-, Schilddrüsen- oder Leberkrebs als Zielgruppe definierten. Nachdem Titel und Abstracts sowie Volltexte der Treffer gescreent wurden, wurden die eingeschlossenen Arbeiten anhand der Checkliste des Critical Appraisal Skills Programme auf ihre Qualität hin bewertet. Anschließend wurden Daten zu den Studienmerkmalen extrahiert. Weiters wurden Empfehlungen aus den inkludierten Studien narrativ zusammengefasst. Anhand der extrahierten Daten wurden alle in den Originalstudien berichteten Konzepte identifiziert. Es wurden Ähnlichkeiten und Unterschiede ermittelt, die in den Originalstudien untersucht wurden. Die Konzepte wurden in Clustern gruppiert, die umfassendere Konstrukte widerspiegeln. Es wurde ein konzeptionelles Modell entwickelt, um die Erfahrungen und Auswirkungen im Kontext der finanziellen Toxizität zu veranschaulichen.

Wesentliche Ergebnisse

Die zwölf eingeschlossenen Artikel berichteten über zehn verschiedene Studien. Alle Studien waren Querschnittsstudien mit qualitativ-deskriptivem Design. Sie wurden zwischen 2005 und 2018 in Kanada, Australien, England und Irland durchgeführt. Es wurden insgesamt 243 onkologische Patient:innen und 56 pflegende Angehörige interviewt. Aus der Synthese der Studien ergaben sich fünf Themen in Bezug auf die Erfahrungen der Betroffenen:

  • Steigende Kosten für Haushalt und medizinische Versorgung: Teilnehmende gingen davon aus, dass alle Kosten für die Krebsbehandlung entweder durch staatliche oder private Krankenversicherungen gedeckt würden. Außerdem hatten sie nicht damit gerechnet, dass die Kosten über einen längeren Zeitraum hinweg anfallen würden, da sie Krebs eher als akute und weniger als chronische Erkrankung betrachteten.
  • Verminderte finanzielle Ressourcen: Betroffene berichteten von einem geringeren Einkommen, weil sie nicht mehr oder nur noch in Teilzeit arbeiten konnten. Außerdem hatten Teilnehmende Probleme mit unzureichendem Urlaubsanspruch und mussten unbezahlten Urlaub nehmen.
  • Unterschiede in finanziellen Veränderungen und finanzieller Toxizität: Einige Betroffene empfanden finanzielle Veränderungen nicht als Belastung. Einzelne Personen konnten auf ihre Ersparnisse oder auf Leistungen der Krankenkasse zurückgreifen oder sich auf das Einkommen ihrer/ihres Partner:in verlassen.
  • Konsequenzen der finanziellen Toxizität: Einige Personen hatten nicht genügend finanzielle Mittel, um mit Nebenwirkungen umzugehen oder um notwendige Hilfe zu Hause zu erhalten. Außerdem bewirkten finanzielle Engpässe erhöhten Druck, früher an den Arbeitsplatz zurückzukehren, als Betroffene dazu bereit waren. Dies führte zu emotionaler Belastung und existenziellen Sorgen.
  • Strategien zur Abfederung finanzieller Engpässe: Patient:innen verwalteten ihre Haushaltsausgaben, passten ihre sozialen oder Freizeitaktivitäten an, liehen sich Geld bei ihrer/ihrem Arbeitgeber:in, ihrer Bank oder bei Familie und Freunden oder passten ihre Arbeitszeiten an.

Schlussfolgerungen der Studienautor:innen

Gesundheitsfachpersonen sollten finanzielle Toxizität frühzeitig im Verlauf der Krebserkrankung einschätzen und erkennen. Sie sollten informiert sein, welche Ressourcen für finanzielle Unterstützung zur Verfügung stehen und die Betroffenen auf entsprechende Stellen verweisen. Auf institutioneller Ebene wird die Einführung einer Lotsenfunktion für finanzielle Unterstützung zur Bereitstellung von Hilfe bei der Beantragung von Leistungen, die Integration einer Wohlfahrtsorganisation in onkologische Behandlungsprogramme und die Bereitstellung kostenloser Transport- und Unterkunftsprogramme empfohlen.

AHOP-FAZIT

Die systematische Übersichtsarbeit von Fitch MI et al. (2022) vermittelt erstmals einen Überblick über Erfahrungen von onkologischen Patient:innen mit finanzieller Toxizität. Es wird deutlich, dass dieses Problem lange außer Acht gelassen wurde und schließt innovativ an aktuelle finanzielle Entwicklungen in der Gesellschaft an. Aufgrund der sorgfältigen und breit angelegten Literaturrecherche kann für die generierten Daten eine hohe Qualität angenommen werden. Auch die Aufbereitung der Daten in Form von übersichtlichen Tabellen und einem konzeptuellen Modell unterstützt dabei, einen Überblick über die Evidenz zu erhalten. Da sich finanzielle Toxizität unmittelbar auf die Versorgung von onkologischen Patient:innen auswirken kann, ist die Praxisrelevanz nicht von der Hand zu weisen und wird nachvollziehbar anhand konkreter Beispiele verdeutlicht. Die eingeschlossenen Studien stammten aus vier englischsprachigen Ländern. Die Übertragbarkeit auf den österreichischen Kontext könnte daher limitiert sein.