Die Geschichte des Sterbens im 21. Jahrhundert ist ein Paradoxon. Während in der industrialisierten Welt viele Menschen in Krankenhäusern versterben und Sterben und Tod primär somatisch betrachtet werden, haben Menschen global gesehen keine ausreichende medizinische Versorgung, sterben an vermeidbaren Krankheiten und haben teilweise keinen Zugang zu grundlegender Schmerzlinderung. Auch die Demografie hat sich verändert. Für viele Menschen tritt der Tod später im Leben ein, und das Sterben zieht sich oft in die Länge (O’Brien, 2013). Tod und Sterben haben sich von einem familiären und gemeinschaftlichen Ereignis zu einer primären Domäne der Gesundheitssysteme entwickelt.
Die Lancet Commission on the Value of Death (Sallnow et al., 2022) hat fünf wesentliche Grundsätze einer neuen Vision für den Umgang mit Sterben und Tod formuliert:
Das Ziel von Palliative Care reicht über medizinische Aspekte hinaus (Palliative Care vs. Palliativmedizin), indem physische, psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse berücksichtigt werden. Generell ist in allen medizinischen Bereichen ein Grundverständnis für Palliativmedizin erforderlich, gerade um im Rahmen von schwerwiegenden Erkrankungen rechtzeitig gemeinsam mit den Patient:innen und deren Vertrauten Therapieziele zu definieren und Möglichkeiten aufzuzeigen.
Palliative Care bedeutet bedürfnisorientierte Fürsorge und nicht ausschließlich an der Erkrankung orientierte Förderung von Wohlbefinden zu jedem Zeitpunkt einer schwerwiegenden Erkrankung. Dies wird international auch durch die Weltgesundheitsorganisation gefordert, die einen gerechten Zugang zu Palliative Care unabhängig von der Art der chronischen Erkrankung von Patient:innen empfiehlt (World Health Organization, 2014).
In Österreich gibt es eine abgestufte Hospiz- und Palliativversorgung, Adressen und Informationen findet man auf www.hospiz.at und www.palliativ.at. Egal, welche medizinische Fachrichtung man wählt, an End-of-Life Care kommt niemand vorbei. Daher sollen Kenntnisse in der primären Palliativversorgung auf allen medizinischen Gebieten gewährleistet werden. Auf einer Palliativstation wird eine spezialisierte Versorgung für komplexe Situationen geboten. Eine Palliativstation sollte nicht als „Ort“, sondern als „Programm“ in Form einer aktiven und umfassenden Therapie verstanden werden. Der Zeitraum für einen Aufenthalt liegt bei etwa drei Wochen. Eine Betreuung im häuslichen Umfeld kann durch mobile Palliativteams gewährleistet werden, eine Betreuung im Hospiz ist dann angemessen, wenn die Gesamtsituation keinen Krankenhausaufenthalt erfordert und der Wunsch besteht, die letzten Lebensmonate in einer geschützten Atmosphäre zu verbringen.
Es soll auf drei wesentliche Kompetenzen von Palliativmedizin eingegangen werden:
Ein Meilenstein gelang 2020 mit der Veröffentlichung einer im Internet frei abrufbaren Leitlinie Palliativmedizin für Patient:innen mit einer nichtheilbaren Krebserkrankung. Der Anteil an Palliativpatient:innen mit onkologischen Erkrankungen ist hoch, wenngleich auch Personen mit nichtonkologischen Erkrankungen Bedarf an einer palliativen Betreuung haben (Quinn et al., 2020). Zudem wird laufend an symptomlindernden Medikamenten geforscht, die evidenzbasiert, aber dennoch häufig Off-Label, also jenseits ihrer Zulassung, angeboten werden. Als Beispiele für einen evidenzbasierten Off-Label Use dienen Opioide zur Behandlung von Atemnot, Olanzapin zur Behandlung von Übelkeit, Ondansetron zur Behandlung nichtchemotherapieinduzierter Übelkeit oder Trazodon bei Insomnie. Gute pharmakologische Kenntnisse sind in der Palliative Care wesentlich und finden Einzug in die tägliche Praxis. So ergab eine 2022 in Lancet Oncology publizierte Studie, dass hochdosiertes Dexamethason Dyspnoe bei Patient:innen mit Krebserkrankungen nicht wirksamer als Placebo linderte und mit einer höheren Häufigkeit von unerwünschten Ereignissen verbunden war (Hui et al., 2022). Diese Daten legen nahe, dass Dexamethason nicht routinemäßig zur Linderung von Atemnot verabreicht werden sollte.
Auf der Website www.pall-olu.de werden verschiedene Informationen rund um den Einsatz von Fertigarzneimitteln außerhalb ihrer zugelassenen Anwendungsgebiete (= Off-Label Use) zur Verfügung gestellt. „Pall-OLU“ ist eine kostenfreie, unabhängige Datenbank für medizinisches, pflegerisches und pharmazeutisches Fachpersonal in der Palliativversorgung. Zusätzlich wird auf der Website auf alternative medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapiemöglichkeiten hingewiesen, es werden Überwachungsparameter für Therapien genannt sowie Informationen über die jeweils häufigsten Symptome, die in der Palliativversorgung auftreten, gegeben.
Um bei konkreten Fragen Hilfestellungen zu bieten, hat die Österreichische Palliativgesellschaft unter www.palliativ.at/nc/services/pharmaanfrage eine kostenfreie Plattform eingerichtet. Angefragt werden kann zu den Themengebieten Wechselwirkungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, „Deprescribing“ und Arzneimittelanwendungen außerhalb der Zulassung. Weitere Informationen betreffen Applikationstechniken (z. B. Arzneimittelapplikation über Ernährungssonden, subkutane Gabe von Parenteralia), Kompatibilitäten von Parenteralia, Möglichkeiten der Reduktion der Flüssigkeitszufuhr bei parenteraler Therapie, individuelle Rezepturen und unzureichend behandelte palliativmedizinische Symptome.
Paul Watzlawick formulierte den berühmten Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Was ist die häufigste Tätigkeit in Gesundheitsberufen? Nein, es ist nicht die Dokumentation, es ist das Gespräch. Wir führen im Laufe unserer beruflichen Tätigkeit etwa 400.000 Gespräche. Es ist nicht nur wichtig, was man sagt, sondern was die oder der andere hört bzw. versteht (Iversen et al., 2020).
Palliative Care ist eine Haltung. Durchhalteparolen oder schnelle Trostworte zeugen meist von eigener Unsicherheit. Die Frage „Was sollen wir als behandelndes Team über Sie wissen, um Sie bestmöglich betreuen zu können?“ (Chochinov et al., 2011) kann als Eisbrecher dienen. Ebenso ist es möglich, nach Ressourcen zu fragen, wie „Was hat Ihnen früher in herausfordernden Situationen geholfen?“, „Was ist eine Kraftquelle für Sie?“. Eine interessante Arbeitbeschäftigte sich damit, wie man mit Therapiepräferenzen von Patient:innen umgehen soll, die „alles wollen“. Auf die Frage, ob die medizinische Behandlung angesichts schwerer Krankheiten begrenzt werden soll, antworten Patient:innen und ihr Umfeld häufig, dass sie „alles“ wollen (Quill et al., 2009). Dies sollte als Grundlage für eine breitere Diskussion darüber genützt werden, was „alles“ tun denn bedeuten würde. Ambivalenzen und Widersprüche sollten direkt angesprochen werden, beispielsweise mit: „Können Sie mir helfen, das besser zu verstehen?“. Dies kann schließlich paradoxerweise als Initiierung einer so häufig notwendigen End-of-Life Discussion dienen. Eine gute Strategie, um ein Gespräch zu beenden, ist eine „Ich-Aussage“ wie: „Ich empfehle, auf Basis dessen, was Sie mir mitgeteilt haben, zusammenfassend Folgendes: … Wie klingt das für Sie?“ So haben Patient:innen noch einmal die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und Behandler:innen nehmen wahr, was die Patient:innen von dem Gespräch mitgenommen haben. Ein persönlicher Grundsatz der Autorin lautet: „Don’t ever fight back!“ Es ergibt keinen Sinn, in herausfordernden Gesprächssituationen mit Abweisung und Aggression zu reagieren.
Im Grunde ist es ein Vertrauensbeweis, wenn Menschen dazu in der Lage sind, ihrem Gegenüber Ärger, Wut – nach Elisabeth Kübler-Ross: „Wut auf den Tod, der im Raum steht“ – und Frustration mitzuteilen. Auf der Website www.vitaltalk.org finden sich wertvolle Videos – auch in Bezug auf Palliative Care. Als Hilfe für die tägliche Praxis kann die Berücksichtigung der von Viktor Frankl mit Fi-Ta-Im-In (Vitamin) abgekürzten Fertigkeiten Fingerspitzengefühl, Taktgefühl, Improvisationsgabe und Individualisierungsvermögen dienen. Über das Sterben zu reden hat noch niemanden umgebracht …!
Wann ist nun der richtige Zeitpunkt, eine Diskussion über die verbleibende Lebenszeit und die Wünsche, Ziele und Werte der Patient:innen zu beginnen? Als Anhaltspunkt dafür kann dienen, wenn die Surprise Question (White et al., 2017) „Wäre ich überrascht, wenn diese:r Patient:in im nächsten Jahr versterben würde?“ mit „Nein“ und die Double Surprise Question (Ermers et al., 2021) „Wäre ich überrascht, wenn diese:r Patient:in nach einem Jahr noch lebt?“ mit „Ja“ beantwortet wird.
Vorausschauendes Planen, Advance Care Planning (Schrijvers et al., 2014), wozu u. a. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zählen, sind zentrale Instrumente, um den eigenen Willen auszudrücken und für eine Situation vorzusorgen, in der man sich selbst nicht mehr äußern kann. Als Eselsbrücke MVP (Horowitz et al., 2020) werden die Überbegriffe Medical Situation, Values und Plan beschrieben(Abb. 1).
In den letzten zehn Jahren hat sich eine Vielzahl von Erkenntnissen in Bezug auf die Integration von Palliativmedizin in die Onkologie angesammelt. Die Frage ist nicht mehr, ob Palliative Care angeboten werden sollte, sondern welches das optimale Modell ist, wann der ideale Zeitpunkt dafür ist, wer am dringendsten eine palliativmedizinische Betreuung benötigt und wieviel Palliativmedizin die Onkologinnen und Onkologen selbst anbieten sollten. Gezielte Palliativversorgung bedeutet, jene Betroffene zu identifizieren, die am ehesten von spezialisierten Palliativversorgungsmaßnahmen profitieren (Hui et al., 2018, Abb. 2).
Jedes Menschenleben ist einzigartig. Zu den Kernkompetenzen von Palliative Care zählen Symptomlinderung und pharmakologische Kenntnisse, kommunikative Fertigkeiten sowie Advance Care Planning. Aufgrund der weit verbreiteten Ängste vor Tod und Sterben und des Mangels an empirischen Daten über den Sterbeprozess führte William Osler bereits zwischen 1900 und 1904 am Johns Hopkins Hospital in Baltimore eine „Study of the act of Dying“ mit 486 Patient:innen durch. Osler verfasste über die Ergebnisse nie eine Publikation. Er kam zum Schluss, dass für die meisten Patient:innen „der Tod ein Schlaf und ein Vergessen“ war. Eine Analyse der Originaldaten ergab, dass 186 Patient:innen körperliche, mentale oder spirituelle Beschwerden hatten (Mueller, 2007). Auch im 21. Jahrhundert wird eine ausschließliche Konzentration auf somatische Aspekte am Lebensende der Komplexität des Individuums nicht gerecht. Palliative Care ermöglicht ein Bigger Picture!
DGKP Sabina Frank Klinische Abteilung für Palliativmedizin, Universitätsklinikum AKH Wien, Medizinische Universität Wien |
Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Delir, Obstipation, Durchfall, Juckreiz, Fatigue, Ängste, Trauer um Verluste – die Symptome von Palliativpatient:innen sind zahlreich, gravierend, über weite Strecken schier unerträglich. Neben körperlichen Beschwerden ist auch die Angst vor dem Verlust der Würde besonders belastend. Daher ist es neben dem Symptommanagement unser Bestreben, die Selbstwirksamkeit zu stärken, um Wohlbefinden und im besten Fall Lebenssinn zu bewahren. Dies führt nachweislich auch zu einer längeren, sinnerfüllten Lebensdauer. Jede individuelle Situation ist derart komplex, dass eine Berufsgruppe allein nicht alle Dimensionen abdecken kann, weshalb der multiprofessionellen Zusammenarbeit besondere Bedeutung zukommt. Das Besondere an diesem Team ist die Arbeit auf Augenhöhe. Erfahrungen werden laufend im täglichen Betrieb sowie einmal wöchentlich bei der Sozialvisite ausgetauscht. Tatsache ist, dass im Bereich Pflege viele Fäden zusammenführen; wichtig zu wissen ist, wann welche Expert:innen hinzuzuziehen sind. Um die uns anvertrauten Patient:innen in ihrer Ganzheitlichkeit wahrnehmen und ihre Würde respektieren zu können, stellen wir in deren Betreuung nicht zuallererst Fragen nach Defiziten, Schmerzen oder Beschwerden, sondern nehmen Betroffene in ihrer Einzigartigkeit wahr und ermutigen sie, Selbstwirksamkeit wahrzunehmen und Kontrolle zu behalten. Die Pflege ist Teil eines vernetzten Teams, das in gegenseitigem Respekt mit den Patient:innen gemeinsam ein Stück des Weges geht. Betroffene formulieren ihre Ziele selbst bzw. definieren wir sie gemeinsam mit ihnen, falls gewünscht. Durch unsere Erfahrungen, Wissen und Kompetenz können wir evidenzbasiert geeignete Interventionen anbieten, die im Moment erforderlich sind bzw. zum Erreichen der Ziele führen können. Beispielsweise können beim Verbandwechsel Schmerzen auftreten, denen durch pflegerische Kompetenz (z. B. Wundmanagement, richtige Anwendung der Materialien …) und/oder auf ärztliche Anordnung (Medikamente …) zu begegnen ist. Bei der Körperpflege werden oftmals seelische Nöte, Ängste, Sinnfragen geäußert. Da Pflegende die meiste Zeit mit Patient:innen verbringen, müssen diese in Bezug auf Schmerz, Leid und Trauer reflektiert und authentisch sein. Wir müssen Vergänglichkeit und Tod als Teil des Lebens annehmen können. Leid darf nicht ignoriert und nicht mit schnellen Trostphrasen überspielt werden, man darf aber auch nicht in Mitleid versinken. Kommunikation ist ein zentraler Bestandteil unserer Tätigkeit, doch nur ein Teil davon ist verbal (Informations- und Entlastungsgespräche), der Großteil findet nonverbal statt: unsere Haltung, Mimik, Gestik, unser Menschenbild, unsere Bereitschaft, diesen Weg gemeinsam durchzuHALTen. Mit unserer HALTUNG vermitteln wir Sicherheit, Ruhe, Zuversicht und bestenfalls auch Lebensfreude. Auch lächeln und lachen haben einen wichtigen Platz in unserem „Skillskoffer“. Es ist eine Freude, positive Rückmeldungen von Patient:innen sowie An- und Zugehörigen zu bekommen, die immer wieder Wertschätzung und Zufriedenheit mit unserer Arbeit ausdrücken.