Covid 19: „Die Pfeif-drauf-Stimmung ist Teil des Ärgers“

Apotheker Krone: Wie geht es der Bevölkerung inmitten der Pandemie psychisch? Was machen Lockdowns, Isolation und Beschränkungen mit der Gesellschaft?

Univ.-Prof. Prim. Dr. Christian Simhandl: Zu den Auswirkungen gibt es nun vermehrt Untersuchungen in Europa, in den USA und auch aus Österreich. Sie zeigen Angst, Verunsicherung, Schlafstörungen, Konfusion. Je kürzer ein Lockdown ist, desto besser kommt man allerdings damit zurecht. Aber auch die Klarheit in der Kommunikation spielt eine Rolle, wie gut die Bevölkerung mit der Situation umgeht. Wenn man auf die vergangenen Monate blickt, war jedoch eher eine Verunsicherung zu bemerken, bedingt durch völlig unterschiedliche Empfehlungen, die im Rahmen der Krise abgegeben wurden. Das sorgt auch für Wut.

Das heißt, die Kommunikation durch Entscheidungsträger ist nicht gut gelungen?

Da ist einiges schiefgelaufen! Wenn der Öffentlichkeit zuerst Informationen gegeben werden, die man im Nachhinein relativiert, verunsichert man die Menschen. Wenn man davon spricht, dass Kinder die große Ansteckungsgefahr für ihre Großeltern sind, ist das in kommunikativer Hinsicht eine Katastrophe. Im Sommer hat es geheißen, es kommt keine zweite Welle. Das hat sich als völlige Fehleinschätzung herausgestellt! Es ärgert die Menschen, wenn vieles nicht so ist, wie man es angekündigt hat. Das gilt auch, wenn man vorher mit so mancher Ankündigung übertrieben hat. Gleichzeitig fehlt vielen Menschen noch immer das Grundverständnis, was Aerosole sind oder warum es so wichtig ist, zu lüften. Dazu hat keine ausreichende Kommunikation stattgefunden. Manchmal ist weniger mehr!

Was erzeugt noch Wut?

Viele Menschen sehen zu recht nicht ein, warum man in Pflegeeinrichtungen die Besuche einschränkt, aber gleichzeitig wird verabsäumt, das Personal regelmäßig zu testen. Diese „Pfeif-drauf-Stimmung“ ist ein Teil des Ärgers, den die Menschen empfinden. Man denkt sich auch, es kann doch nicht sein, dass man Spitäler quasi abriegelt – die Menschen trauten sich nicht mehr, hinzugehen – und Operationen verschiebt, da sich dies zum Teil als lebensgefährlich erweisen kann. Einen Lockdown eine Woche lang medial anzukündigen, ist er nun notwendig oder nicht

Welche Rolle spielt die Angst aktuell?

Die Angst ist auf zwei Ebenen bedeutend. Zum einen geht es um die Frage: Werde ich selbst angesteckt? Zum zweiten hat man Angst, andere mit dem Virus zu infizieren. Da spielen dann auch Gedanken wie „Wird es genug Betten für Intensivpatienten geben?“ eine Rolle. Diese Frage wird ja laufend von Entscheidungsträgern und Medien befeuert. Hinzu kommt natürlich für viele Menschen die Sorge um den Arbeitsplatz, oder, wenn man diesen bereits verloren hat, die finanzielle Sorge.

Wut, Angst, Sorgen um die Existenz – ein giftiger Cocktail …

Ja, und dazu kommt noch die Enge, zu der es in Haushalten mit schulpflichtigen Kindern kommt. Stellen Sie sich die Situation vor: Zwei Erwachsene im Homeoffice, Kinder die Fernunterricht bekommen – da wird es dicht, laut, es kann auch zu Entladungen kommen. Das alles erzeugt enormen Stress. Und ein weiterer häufiger Stressor ist natürlich die Stigmatisierung von Erkrankten, wenn man einem COVID-Patienten das Gefühl gibt, etwas falsch gemacht zu haben, ihn verurteilt.

Welche Langzeitfolgen für die psychische Gesundheit und auch für das Verhalten sind absehbar oder zu befürchten?

Dazu gibt es wissenschaftliche Arbeiten* zu Quarantäne aus Gesundheitskrisen in Zeiten von SARS, MERS und Pferdeinfluenza. Man hat die Menschen über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nachuntersucht.
Bemerkenswerte Ergebnisse hat es beim medizinischen Personal gegeben: 26 % haben auch nach dieser Zeit immer noch Menschenansammlungen vermieden.
21 % zeigten nach wie vor Unsicherheiten, überhaupt unter Menschen zu gehen, und 54 % suchten großen Abstand, wenn sie jemanden beim Husten gesehen haben. Diese posttraumatischen Stresssymptome sind beträchtlich.

Welche langfristigen Folgen konnte man noch feststellen?

Bei Krankenhauspersonal legen Untersuchungen drei Jahre nach großen Gesundheitskrisen einen Anstieg von Süchten dar. Bei manchen zeigt sich auch Langeweile, was auf den ersten Blick überrascht, aber in Wahrheit veranschaulicht, dass man aus der belastenden Situation nicht herauskam.

Wie geht es Menschen, die schon vor Ausbruch der Coronakrise psychisch erkrankt waren?

Dazu gibt es zum Beispiel eine niederländische Publikation**, die brandneu im Lancet erschien. Hier wurden Kommunikation und Mobilität vor der Zeit einer dreiwöchigen Isolation mit einer drei wöchigen Lockdown-­Phase verglichen. Drei Patientengruppen nahmen teil: Menschen mit Schizophrenie, Major Depression und bipolarer Störung. Die Ergebnisse sind – auch wenn es sich um ein kleines Kollektiv handelt – bemerkenswert. Es zeigte sich eine signifikant höhere Gesamtzeit, die für verschiedene Kommunikationskanäle verwendet wurde, aber die Zahl der Treffen sank von sechs auf drei pro Woche. Man kann also sagen, die – geringen – persönlichen Kontakte psychisch kranker Menschen halbierten sich.

Schlüsselbotschaften aus Studien zu Isolation und Quarantäne

  • Menschen in Isolation müssen gut informiert werden, um die Situation zu verstehen.
  • Es braucht eine effektive und rasche Kommunikation.
  • Ein Lockdown sollte kurz sein, und die Dauer sollte nicht verändert werden, sofern extreme Umstände dies nicht notwendig machen.
  • Die meisten adversen Effekte haben ihren Ursprung in der Einschränkung der Freiheit. Freiwillige Isolation wird mit weniger Distress und geringeren Langzeitfolgen in Verbindung gebracht.
  • Das öffentliche Gesundheitswesen sollte den Altruismus der Selbstisolation betonen.

Quelle: Brooks SK et al., The Lancet 2020; 395(10227):912–920


Literatur:

* Brooks SK, ThWebster RK, Smith LE et al., The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. The Lancet 2020; 395(10227):912–920

** Jagesar RR, Roozen MC, van der Heijden I et al., Digital phenotyping and the COVID-19 pandemic: Capturing behavioral change in patients with psychiatric disorders. European Neuropsychopharmacology, online 19 November 2020