Die Pandemie sei lange Zeit Thema Nummer eins gewesen, meinte Dr. Jan Oliver Huber, Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, in seiner Einleitung zum Generalthema „Versorgungssicherheit mit Medizinprodukten während der Pandemie“. Plötzlich stünden Österreich, Europa und die Welt aber mit dem Krieg in der Ukraine vor „ganz anderen, brutalen Herausforderungen“. „Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist sicherlich eine Zeitenwende. Nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt“, sagte Huber. Die neue Krise betreffe das Leben jedes Einzelnen, genauso die gesamte geopolitische Situation.
Freilich, Krisen stellen Situationen dar, in denen Schwächen und Stärken von Gesellschaft und staatlichen Strukturen jedes Mal wieder auf die Probe gestellt werden. Das habe vor dem Krieg in der Ukraine zwei Jahre lang bereits für die Situation rund um COVID-19 gegolten. Huber: „Wir haben gesehen, dass beim Management viel Luft nach oben vorhanden ist. Wir haben jetzt den dritten Gesundheitsminister bekommen und bemerkt, dass Erfahrung in der Landespolitik noch keine Erfolgsgarantie für die Bundespolitik ist. Aber wir bleiben hoffnungsfroh. Die Führung dieses Landes hat hier echten Nachholbedarf.“
In der Öffentlichkeit wird der Stellenwert der Medizinprodukte für Patientinnen und Patienten bzw. für die Gesundheitsversorgung – von der Diagnose bis zur Nachbehandlung – insgesamt oft stark unterschätzt. Mag. Philipp Lindinger, Geschäftsführer der AUSTROMED, als Vertretung der Branche: „Wir haben 562 Unternehmen in dieser Branche in Österreich. Mehr als 90 % sind Klein- und Mittelbetriebe. Wir haben rund 56.000 Beschäftigte. Gemeinsam macht dieser Bereich einen Jahresumsatz von 16,6 Mrd. Euro. Die Bruttowertschöpfung beträgt 4,5 Mrd. Euro.“ Die 125 im AUSTROMED-Branchenverband vertretenen Unternehmen wiederum erwirtschafteten mit 7,44 Mrd. Euro Jahresumsatz etwa 45 % des Marktvolumens. Nur einige der akuten Themen während der Pandemie: Zutritt von Medizinprodukteberatern zu Krankenhäusern etc. während der COVID-19-Krise, Quantität und Qualität zur Verfügung stehender COVID-19-Tests, Kennzeichnung und Qualität von Masken und Desinfektionsmitteln sowie ausreichende Versorgung mit Spritzen, um die COVID-Vakzine überhaupt anwenden zu können.
Die Branche habe jedenfalls bereits in einem eigenen, aktualisierten „Weißbuch Medizinprodukte“ versucht, die wichtigsten Forderungen aus den Pandemie-Erfahrungen heraus zu formulieren:
Für die Zukunft: Der Bereich der Medizinprodukte und die gesamte Branche sollten jedenfalls an vorderer Stelle in alle Schritte zur Strategieentwicklung für künftige (Pandemie-)Krisen eingebunden sein. Die Digitalisierung ist auch in diesem Sektor voranzutreiben, die Abhängigkeit vom Ausland muss reduziert werden. Und, so Lindinger: „Die Beschaffung ist neu zu denken – weg von der reinen Stückkostenbetrachtung zum gesamtwirtschaftlich günstigsten Angebot.“
SARS-CoV-2 und die Pandemie haben weltweit enormen Schaden angerichtet. Was aber gleichzeitig für alle Menschen klar belegt wurde: der gleichzeitig enorme Nutzen eines funktionierenden Gesundheitswesens. Dies belegte bei der Veranstaltung der Standortanwalt der Wiener Wirtschaftskammer, Dr. Alexander Biach, ehemals Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger.
„Das Projekt ‚Alles gurgelt‘ der Stadt Wien und der Wirtschaftskammer Wien wurde zu einer Erfolgsstory für den Standort Wien“, sagte Biach. Österreichs Wirtschaft dürfte durch COVID-19 einen BIP-Verlust von 40 Mrd. Euro erlitten haben. Die Tests für ganz Österreich machten Kosten von 2,6 Mrd. Euro aus. Das müsse man aber in Relation zu anderen Ausgaben setzen: 9,2 Mrd. Euro hätte allein das Kurzarbeitsgeld ausgemacht, vier Milliarden der Ausfallsbonus an zweiter Stelle.
„Wien realisiert 60 % der durchgeführten PCR-Tests in Österreich und hat dafür von März 2020 bis Dezember 2021 625 Millionen Euro aufgewendet. 137 Millionen Euro (22 %) machte ‚Alles gurgelt‘ aus, 101 Millionen Euro noch nicht genutzte Testkits für ‚Alles gurgelt‘ und 387 Millionen Euro (62 %) andere Tests.“ Eine Studie der Wirtschaftskammer Wien gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Kearney habe eindeutig ergeben: „Der ökonomische und strategische Mehrwert durch den Aufbau der Wiener Testinfrastruktur übersteigt die entstanden Kosten.“ So seien den Ausgaben von 625 Millionen Euro ein erwirtschaftetes Bruttoinlandsprodukt von 1,062 Mrd. Euro gegenübergestanden. Biach: „Der entscheidende Punkt, der in vielen Gesundheitsdebatten fehlt, ist, dass das Gesundheitswesen ein extrem wichtiger Wirtschaftsfaktor ist.“
Durch die Wiener COVID-19-Test-Infrastruktur habe der Wirtschaftsstandort entscheidende Vorteile gehabt, so Biach: „Die Stadt Wien geht für den Zeitraum Oktober bis Dezember von einer Gesamtzahl von 14.600 bis 20.000 vermiedenen Fällen pro Monat im Vergleich zu Restösterreich aus.“ Ab 5.300 bis 5.900 vermiedenen COVID-19-Fällen rechne sich das Testangebot in der Bundeshauptstadt bereits. So könne man in einem Winter in Wien allein 20 bis 22 Millionen Euro Schaden durch vermiedene Quarantänetage verhindern.
Der Standortanwalt der Wiener Wirtschaftskammer: „Flächendeckendes Testen, gepaart mit Contact Tracing und Isolierung, reduziert die effektive Reproduktionszahl bei COVID-19 um bis zu 15 %.“
„Es waren viele neue Situationen mit Vor- und Nachteilen. Letztendlich kamen wir sehr gut durch die Pandemie. Wir haben aus der Pandemie viel für die Lagerhaltung gelernt, auch den Umgang mit rollierenden Lagern. Wir müssen von asiatischen Unternehmen unabhängiger werden. Wir brauchen wieder mehr Produktionsstätten, zumindest in Europa“, sagte schließlich Mag. Martina Anditsch, Leiterin der Anstaltsapotheke des Wiener AKH, zu ihren Erfahrungen während der vergangenen beiden Jahre.
Die Apothekerschaft, auch die Krankenhausapotheker, seien beispielsweise zu Beginn der COVID-19-Pandemie in Sachen Desinfektionsmittel etc. wieder auf ihre ursprüngliche Rolle beim Produzieren solcher Produkte zurückgeworfen worden. Natürlich sei es auch teilweise schwierig gewesen, Quantität und Qualität gleichermaßen zu garantieren. Eine Umstellung habe es auch durch das Etablieren von zentralen, österreichweiten Einkaufsmechanismen gegeben.
Für die Zukunft gehe es im Endeffekt um einige wichtige Lehren, die aus der Krise zu ziehen seien: Sicherstellung pragmatischer Lösungen, dezentral funktionierende Systeme, Sicherstellung „strategischer Souveränität“, was die Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten betreffe, Reduzierung des Kostendrucks und um die strukturelle Stärkung der Krisenvorsorge sowie um effektives Datenmanagement.