Der Mensch ist mehr als eine komplexe Maschine

Es war spannend von der ersten bis zur letzten Minute, der Saal war voll, das Interesse und die Begeisterung waren groß.

Das Thema war mutig gewählt und nur auf den ersten Blick ungewöhnlich für Apotheker. So zumindest empfand es der 2. Tagungspräsident, Univ.-Prof. DDr. Christian Schubert, nach eigener Darstellung, als er von Mag. pharm. Hans Bachitsch zur Mitarbeit bei der wissenschaftlichen Organisation der Tagung eingeladen worden war. Schubert, der sich selbst als Kämpfer gegen die „Maschinenmedizin“ und gegen die Ökonomisierung der Medizin beschreibt, war rasch begeistert, schließlich war klar, dass „auch auf Apothekerseite zunehmend Ähnliches stattfindet wie auf Ärzteseite“, dass auch dort Unzufriedenheit besteht, „mit der Art und Weise wie der Beruf zunehmend ausgeübt werden muss“ – vor lauter Mechanisierung, Körper-Seele-Spaltung und Reduktionismus (,alles ist materiell‘).“

So waren Titel und Inhalt der Tagung nur auf den „ersten Blick etwas Unpharmazeutisches“, wie es der Tagungspräsident Mag. pharm. Hans Bachitsch betont. „Als klassischer Apotheker“, als den er sich selbst beschreibt, war es ihm ein Anliegen zur Tara-Relevanz beizutragen. Tatsächlich haben Apotheker ja tagtäglich auch mit Patienten zu tun, die an somatoformen Störungen leiden – als niederschwellige Erstanlaufstelle im Gesundheitssystem vielleicht sogar in einem noch höheren Prozentsatz als Ärzte.

Der Umgang mit diesen Patienten ist oft ein schmaler Grat. Schließlich könne allein mit der Wortwahl viel richtig oder falsch gemacht werden, so Bachitsch. Doch wie kann ein Patient mit somatoformer Störung als solcher erkannt – und vor allem –, wie begleitet werden? Und mindestens genauso wichtig wie diese Fragen: Wie kann man sich als Apotheker selbst schützen? Bachitsch: „Wenn wir täglich Patienten mit Belastungsstörungen betreuen, müssen wir es auch lernen, uns selbst abzugrenzen, um nicht selbst eine solche Störung zu entwickeln …“

Abkehr von der reinen Biomedizin und vom Modell „Mensch als Maschine“

Unter dem Titel „Vom Modell Der Mensch als komplexe Maschine zum biopsychosozialen Paradigma in der Humanmedizin“ erläuterte em. Univ.-Prof. Dr. Josef Wilhelm Egger von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Graz, zunächst die Schwachstellen des in den letzten 100–150 Jahren gelebten – zugegebenermaßen auch sehr erfolgreichen – biomedizinischen Modells.

Man sei zu Recht stolz auf die Leistungen dieser Medizin, die unglaubliche Erfolge ermöglicht habe und auch weitere Erfolge erwarten lasse, so Egger. Dieses Modell sei jedoch in einigen Bereichen überfordert; und zwar so stark überfordert, dass immer mehr Kritik laut wird, wegen der Fokussierung einerseits auf pharmakologische und andererseits auf technisch-chirurgische Möglichkeiten, die den Menschen immer mehr auf eine komplexe Maschine reduziert. Auf einen einfachen Nenner gebracht, umfasst die Kritik alle bekannten Begriffe und Schlagworte von der Ingenieursmedizin, Apparatemedizin zur reinen Reparaturmedizin.

Die Grenzen dieses rein biomedizinischen Modells seien überall dort erreicht, so Egger, wo es darum gehe, chronische Krankheiten zu behandeln, wo nichts zu heilen und zu reparieren sei, wo somatoforme Beschwerden vorlägen, für die sich keine ausreichenden organischen Grundlagen finden ließen, und überall dort, wo es um Gesundheitsförderung gehe.

Das bio-psycho-soziale Paradigma

Für Egger greift jedoch auch der als Gegensatz zum rein biomedizinischen Modell geschaffene Begriff „Psychosomatik“ im ursprünglichen Wortverständnis zu kurz, weil auch die klassische Psychosomatik an der sogenannten Dichotomie von Leib und Seele krankt: Auch „Psycho-Somatik“ basiert noch auf einer „2-Welten-Theorie“, wo Seele und Körper sozusagen 2 parallele Säulen sind, von denen eines das andere beeinflussen kann. Tatsächlich läuft aber alles immer parallel auf allen Ebenen ab und kann gar nicht kausal voneinander getrennt werden.

Körper und Seele. Egger betont, dass man Körper losgelöst von Seele nicht denken kann und umgekehrt Seele nicht losgelöst vom Physiologischen. Unser Denken beeinflusst unsere Gefühle, und unsere Gefühle sind immer auch physiologische Prozesse. Als Konsequenz dieser Erkenntnis ergibt sich daraus eine entscheidende Änderung im Krankheitsverständnis: Es ­gibt gar keine Trennung zwischen psychosomatischen und nichtpsychosomatischen Krankheiten. „Diese Unterscheidung ist logisch falsch und daher obsolet“, so Egger.

Entsprechend dem biopsychosozialen Modell ist der Mensch in seiner Gesamtheit (bio – psycho – sozial) zu verstehen: neben dem Mensch als biologisches Wesen, auch als Wesen mit typischen Eigenheiten des Denkens und Fühlens und als Wesen mit individuellen sozialen, kulturellen Lebensumwelten.

Was ist Gesundheit?

Auch Gesundheit und Krankheit sind entsprechend dem biopsychosozialen Modell ganz anders definiert, als wir es üblicherweise gewohnt sind. Nicht das Fehlen von Erregern und Pathogenen ist Gesundheit, sondern: Gesundheit sei die ausreichende autoregulative Kompetenz des „Systems Mensch“, mit beliebigen Störungen autoregulativ umzugehen, wie Egger erläutert. Gesundheit ist somit die Fähigkeit, Störungen wirksam zu kontrollieren. Im Gegensatz dazu fehlt bei Krankheit diese autoregulative Kompetenz.

Die moderne klinische Fachrichtung der Psychosomatischen Medizin befasst sich mit Krankheitsbildern, deren Behandlung die Beachtung biopsychosozialer Wechselwirkungen und Zusammenhänge erfordert, wie PD Dr. Christian Fazekas von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Graz, erläutert. Neben dem typischen Beispiel der ­somatischen Belastungsstörung (funktionellen/somatoformen Körperbeschwerden) geht es auch um eine Reihe von bekannten körperlichen Krankheiten mit klinisch relevanten psychosozialen Faktoren. Dazu zählen etwa Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ II, ­gastrointestinale Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, dermatologische Erkrankungen (Neurodermitis), aber auch Myokardinfarkt. Laut einer Lancet-Studie ist das Herzinfarktrisiko zu 90 % durch 9 modifizierbare Risikofaktoren – einer davon psychosoziale Faktoren – erklärbar.

Somatische Belastungsstörung

Grundsätzlich spüren wir uns alle immer wieder mit gewissen Irritationen. Und „dass wir uns leiblich spüren ist Teil unseres Leiblichseins“, erläutert Fazekas. Die Frage ist jedoch, was das Leiblichspüren beim einzelnen auslöst. So zeigt eine ­JAMA-Publikation, dass 60–80 % der gesunden Bevölkerung innerhalb einer Woche selbstlimitierende körperliche Symptome erleben. 10–20 % der Bevölkerung sorgen sich jedoch der Studie zufolge wiederkehrend ernstlich um ihre Gesundheit.

Die in den klinischen Leitlinien zu somatoformen Beschwerden genannten Daten gehen von bis zu 10 % der Bevölkerung aus, die von nichtspezifischen, funktionellen Beschwerden, sogenannten „somatoformen Körperbeschwerden“ betroffen sind. Demnach sind es etwa 20 % (!) aller Konsultationen beim Hausarzt und beim Facharzt, die aufgrund somatoformer Störungen erfolgen. Zahlen für den Apothekenbesuch sind nicht bekannt. „Aber wahrscheinlich ist der Prozentsatz an der Tara sogar noch höher“, schätzt Fazekas.

„Innen“-Wahrnehmung und Krankheitserleben. Entscheidend ist für den Betroffenen zunächst die Innen-Wahrnehmung körperlicher Signale und Empfindungen, die sogenannte „Interozeption“. Fazekas verweist auf die möglichen Zusammenhänge zwischen der Interozeption und dem „Krankheitserleben“. So greifen Interozeption und Selbstregulation (Verhalten, Aktivität), psychisches Empfinden (Selbstvertrauen, Angst, Kontrollverlust), aber auch physiologische Faktoren (Hunger, Durst) und Krankheitserleben (Panik, Herzrasen, Übelkeit et cetera) ineinander. Fazekas zitiert Studien, die die Chronifizierung von Schmerzerleben nach akuter Traumatisierung als auslösenden Faktor untersucht haben: Vergleicht man Menschen, die 6 Wochen nach einem Autounfall unter chronischen Schmerzen litten, mit Frauen, die 6 Wochen nach sexuellem Missbrauch unter chronischen Schmerzen litten, dann fällt auf, dass die Schmerzen ähnlich lokalisiert sind und ähnlich stark manifestieren (Kopf, Nacken, Rücken, Knie et cetera), das heißt, dass körperliche und psychische Traumatisierung zu einer ähnlichen Chronifizierung des Schmerzerlebens führen.
Mit all dem Wissen um Zusammenhänge stellte sich letztlich wissenschaftlich die Frage, ob der Begriff funktionelle (medizinisch nicht erklärbare) Symptome noch haltbar ist oder ob nicht vielmehr beim Patienten mit der Definition „somatoforme, das heißt medizinisch nicht erklärbare Störung“ nicht neue Belastungen geschaffen werden.
Diesen Bedenken trägt nun die neue Nomenklatur der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 Rechnung. Der Begriff „somatische Belastungsstörung“ hat seit 2013 die Bezeichnung somatoforme Störung ersetzt. Erstmals wurde damit das bis dahin für diese Krankheitsgruppe wichtige Kriterium des unzureichenden oder fehlenden Befundes fallen gelassen. Diagnostisch stehen die durch die somatischen Beschwerden verursachten psychischen Belastungen im Mittelpunkt.

Psychoneuroimmunologie

PNI, die Psychoneuroimmunologie, ist ein neuer Forschungsbereich, der sich mit den hochkomplexen Wechselwirkungen zwischen Nerven-, Hormon- und Immunsystem und mit den Mechanismen, wie sich psychosoziale Stimuli in diesen Körpersystemen abbilden, befasst. Univ.-Prof. DDr. Christian Schubert, Universitätsklinik für Medizinische Psychologie, Innsbruck, bezeichnet die Erkenntnisse über diese Zusammenhänge als konzeptionellen Durchbruch, der es ermöglicht, den menschlichen Organismus sowie Gesundheit und Krankheit unter einer völlig neuen Perspektive zu sehen.

Nervensystem, Hormonsystem oder Immunsystem – all diese Regelkreise und Systeme sind nicht isoliert zu betrachten, sondern greifen ineinander und werden von psychosozialen Faktoren stimuliert. „Es gibt keine Trennung, wir sind eins“, sagt Schubert.

Ein noch halbwegs überschaubares Gedankenbeispiel für dieses neue Denken und dieses neue Paradigma des biopsychosozialen Modells sei das Immunsystem, wie Schubert erläutert. Dieses ist schulmedizinisch betrachtet ein materielles System aus Immunzellen, Immunmediatoren, Zytokinen et cetera. „Das am ehesten Immaterielle am Immunsystem ist in der Schulmedizin noch das Fieber.“ Tatsächlich findet sich aber die Immunologie auch in der Psychologie, beispielsweise mit dem Ekel als immaterielles „Immunorgan“. Ähnlich die „Angst“, die uns veranlasst, uns vor Verletzung zu schützen.

Wie Schubert am noch relativ einfachen Beispiel einer Bagatellverletzung und der darauf folgenden Reaktion des Immunsystems erläutert, ist der erste Schritt der Zytokinausschüttung quasi die gemeinsame biochemische Sprache, auf die der gesamte Körper mit allen Organen reagiert. Die Zytokinausschüttung wird in allen Organen „dechiffriert“: So werden etwa im Knochenmark Monozyten produziert, in der Leber wird der Akutphasenmetabolismus aktiviert et cetera. Zytokine passieren aber auch die Bluthirnschranke und schaffen im Gehirn Veränderung, wie etwa die Fieberreaktion. Zytokine bedingten aber auch Veränderungen der Psyche, wie Schubert betont. Das sogenannte „Sickness behaviour“ – wir fühlen uns schwach und krank – bezeichnet Schubert als eine hochspezifische Strategie des Immunsystems, um Energie zu sparen. Das Immunsystem steuert somit auch das Verhalten.

Als Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Immunsystem und Psyche verweist Schubert auf eine Studie, in der bei Probanden die Spiegel von Interleukin-6, einem Entzündungsmediator, gemessen wurden: So steigen bei Probanden, die Bilder, die an belastende Krankheiten erinnern, betrachten, die IL-6-Spiegel. In einer anderen Studie wiederum wurde beispielsweise der Zusammenhang von Prüfungs(!)-stress bei Studenten auf die Wundheilung untersucht: Je höher der Stress war, umso schlechter die Wundheilung. Eine Erkenntnis, von der man in der OP-Vorbereitung profitieren könnte.

Meaning Response

Zunehmend beforscht wird auch der Placeboeffekt, der mit Konditionierung im Belohnungssystem in Zusammenhang stehen dürfte. In der neueren Literatur wird er auch als Meaning Response bezeichnet und ist als biopsychosoziale Reaktionsform auf positive Erwartungen zu verstehen.
Die Erwartung des positiven Effektes wird mit Konditionierungsexperimenten überprüft. Als Beispiel zur Konditionierung des Immunsystems verweist Schubert auf eine Studie, bei der gesunden Studenten Adrenalin verabreicht wurde, was – wie erwartet – zu einer (für Adrenalin typischen) unkonditionierten Immunreaktion, nämlich der Steigerung der natürlicher Killerzellen (NKT) im Blut, führte. 4 Tage lang wurde den Probanden dann ein Brausebonbon zusätzlich zur Adrenalin-Spritze verabreicht. Ab dem 5. Tag reichte bereits das Brausebonbon allein aus, um die NKT-Aktivität signifikant ansteigen zu lassen. Das Immunsystem – von Schubert auch als sechster Sinn bezeichnet – lernt somit …

Die Psychoneuroimmunologie untersucht also auf vielfältige Weise die komplexen psychoneuroimmunologischen Zusammenhänge und gilt als Forschungsbereich, von dem in Zukunft die meisten Innovationen für Theorie und Klinik zu erwarten sind. Die Erkenntnisse eröffnen auch enorme klinische Möglichkeiten.

Quelle: 23. Sommerakademie für ApothekerInnen am Wörthersee: „Psychosomatik“, Pörtschach, 14.–16. Juni 2019