Ein Jahr Pandemie – mit psychosozialen Folgen

Die nun bereits über ein Jahr dauernde Coronakrise führt nicht nur zu einer zunehmenden Ermattung (Pandemiemüdigkeit) in der Bevölkerung, sondern auch zu immer stärkeren psychosozialen Auswirkungen. Das Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und Berlin führte eine Follow-up-Studie zu den Folgen der COVID-19-Krise für die psychische Befindlichkeit durch und veröffentlichte kürzlich die Ergebnisse. Fazit: Ängste, Unruhe, depressive Symptome und Reizbarkeit nehmen immer mehr zu, das Gefühl eines selbstbestimmten Lebens nimmt deutlich ab. Befragt wurden 1.000 Personen (Online-Fragebogenerhebung) im Zeitraum von 4. bis 12. März 2021 (der erste Erhebungszeitraum war von 15. bis 26. Mai 2020). Das Kollektiv ist repräsentativ für Österreich (bzgl. Alter, Ausbildung, Einkommen etc.).

Belastungen chronifiziert und verstärkt

„Wir Menschen sind prinzipiell sehr gut geeignet, mit Stress und Belastungen umzugehen, sofern sie nur von kurzer Dauer sind. Seit Beginn der Pandemie sind nun mehr als 12 Monate vergangen, und die COVID-19-bedingten Belastungen haben sich mittlerweile nicht nur chronifiziert, sondern auch weiter zugenommen“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud PrivatUniversität. Gab im Mai 2020 noch rund ein Viertel der Menschen hierzulande über dem 18. Lebensjahr an, durch die Krise psychisch belastet zu sein, ist es im März 2021 bereits ein Drittel. Besonders dramatisch ist, dass der Anstieg an psychischer Belastung bei jenen Personengruppen sehr groß ist, die schon zu Beginn der Pandemie stärker belastet waren. „Die Pandemie wirkt wie ein Verstärker, es kommt zur Segregation, die Unterschiede in der Bevölkerung werden immer größer“, sagt der Stellvertretende Vorstand des Instituts, Dr. Oliver Scheibenbogen. „Besonders in der Altersgruppe der 18–30-Jährigen steigt die psychische Belastung sehr stark an. Folgt man einem linearen Anstieg, so sind das pro Monat 1,5 Prozentpunkte oder in 10 Monaten ein Plus von 15 Prozent, wobei bereits heute jeder zweite Jugendliche eine psychische Belastung angibt.“ Bei Frauen sei im Vergleich zu den Männern die psychische Belastung deutlich stärker angestiegen, erklärt er weiter. Und diese Differenz wächst …

Ergebnisse im Detail

Der Anstieg der psychischen Belastungen erfasste mit Ausnahme Oberösterreichs das ganze Land. In Kärnten und Niederösterreich war die Zunahme mit 12 % im Vergleich zum Mai 2020 am größten, gefolgt von der Steiermark mit 10 %. Als verstärkender Faktor könnte sich auch erweisen, dass durch die Coronakrise 44 % noch immer von nahestehenden Personen getrennt sind.
Um welche Belastungen handelt es sich nun genau, und wie wirken sie sich auf das psychische Wohlbefinden aus? Ein wesentlicher Faktor sind Ängste. Die generelle Angst vor der Zukunft ist um 20 % gestiegen, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Vergleicht man die Altersgruppen, gibt es keine signifikanten Unterschiede. Hauptsächlich sind Ängste in der Sorge begründet, dass das Leben nie wieder so sein werde wie vor der Coronakrise. 10 % gaben außerdem an, seit Beginn der Pandemie ängstlicher zu sein als vorher.

Von innerer Unruhe und Nervosität sind mittlerweile 38,9 % betroffen. Vergleicht man diesen Wert mit der ersten Befragung im Mai 2020, ist ein Anstieg von rund 10 % zu bemerken. Jeder Fünfte der Befragten hat immer noch Angst, das Haus zu verlassen. Dieser Wert ist stabil geblieben, es gab keinen Anstieg im Vergleich zum vorigen Jahr.

Eine leichte Zunahme wurde auch bei Schlafstörungen verzeichnet. 19,5 % der Befragten gaben an, seit Beginn der Coronakrise Schlafprobleme zu haben. Im Mai 2020 waren es noch 13,4 % gewesen. Zu bemerken ist ein Verstärkereffekt, denn die Zunahme war bei den psychisch belasteten Personen am größten.

Eine weitere Erkenntnis aus der Befragung ist eine sinkende Lebensfreude. 50,9 % sagen, ihre Freude am Leben habe sich seit dem Beginn der Pandemie deutlich reduziert. Vor knapp 10 Monaten lag dieser Wert bei 30,4 % – somit handelt es sich um einen Anstieg von über 20 % bei diesem Symptom einer Depression. Am stärksten ausgeprägt war die Zunahme bei Frauen und Jüngeren. 40,1 % fühlen sich erschöpft und energielos (Mai 2020: 31,5 %). Auch hier sind die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft wieder verstärkt betroffen: In der Gruppe der 18–30-Jährigen fühlt man sich doppelt so oft erschöpft wie im Kollektiv der Personen über 50 Jahre.

Bei mehr als jedem zweiten Befragten (51 %) bestand zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung eine erhöhte Reizbarkeit, im ersten Erhebungszeitraum waren es 39 % gewesen. Bei knapp einem Drittel lag in der aktuellen Befragung eine chronische Gereiztheit vor. Auf die Frage, ob man sich durch alltägliche Situationen zunehmend genervt fühle, gaben 50,5 % der Befragten an, dass dies der Fall sei. Bei Frauen lag der Wert um 13 % höher als bei Männern. Jüngere sind doppelt so häufig genervt wie Ältere.

 

 

Restriktionen zeigen psychische Wirkung

Faktoren, welche die psychische Belastung maßgeblich beeinflussen, sind pandemiebedingte Restriktionen (der mit Abstand einflussreichste Faktor), die fehlende Tagesstruktur sowie die Unsicherheit bezüglich des Arbeitsplatzes.
„Gerade auf die Einschränkung unserer Freiheitsgrade reagieren wir Menschen sehr sensitiv“, betont Scheibenbogen. „Das heißt nicht, dass wir keine notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der viralen Krise mehr setzen dürfen und sollten. Oberstes Ziel muss es immer bleiben, alles zu tun, um der Ausbreitung des Virus und der fatalen Ansteckungsfolgen entgegenzuwirken. Haben wir aber nicht mehr das Gefühl, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, sinkt der Glaube an die eigenen Möglichkeiten und eigenen Fähigkeiten, den Anforderungen etwas entgegenstellen zu können.“ Als Folge davon sinke die Selbstwirksamkeit, da keine Erfahrungen des Meisterns, des Bewältigens schwieriger Lebenssituationen mehr möglich sind. Langfristig führe dies zu Gefühlen von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die letztlich auch in eine manifeste psychische Erkrankung münden können. So haben aktuell drei Viertel der Bevölkerung das Gefühl, nur mehr ein eingeschränktes selbstbestimmtes Leben führen zu können. Univ.-Prof. Musalek, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeut, mahnt daher dazu, bei Setzung von restriktiven Maßnahmen auf die Verhältnismäßigkeit zu achten: „Soweit es irgendwie möglich ist, sollte die Bevölkerung in Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Entscheidungen werden eher mitgetragen, wenn man das Gefühl hat, am Entscheidungsprozess und an Lösungen mit beteiligt gewesen zu sein. Selbstgesetzte Restriktionen wirken sich auf die Psyche der Menschen weitaus weniger stark negativ aus, als wenn diese fremdbestimmt erfolgen.“ Deshalb sei es in der Kommunikation von neuen Maßnahmen sehr wichtig, trotz der Restriktionen auch das Mögliche zu betonen und einen Diskussionsprozess über Lösungen zu initiieren.

Alarmierender Trend bei 18–30-Jährigen
Während die mittlere Altersgruppe die Belastungen insgesamt noch am besten wegsteckt, ist der Trend bei 18–30-Jährigen alarmierend. Ausgehend von der Annahme, dass die Pandemie noch ein Jahr dauert, wären dann drei Viertel in dieser Altersgruppe psychisch belastet. Etwas besser sind die aktuellen Werte bei den Über-50-Jährigen. 26 % aus diesem Kollektiv gaben an, psychisch belastet zu sein (Mai 2020: 20 %).