Eine Frage des Bewusstseins?

Wenn wir bewusstlos sind, fühlen wir keine Schmerzen. Darauf baut der Erfolg der Anästhesie auf, die durch modulierte Bewusstseinszustände die schmerzfreie Durchführung von Operationen ermöglicht. Es ist auch der Schmerzreiz, der im klinischen Setting die Unterscheidung zwischen gesunden und krankhaften Bewusstseinszuständen ermöglicht: Erwacht jemand nur auf einen Schmerzreiz hin, wird der Bewusstseinszustand als „soporös“ bezeichnet. Erwacht jemand auf einen Schmerzreiz nicht, dann wird die Bewusstlosigkeit diagnostiziert.

Mit dem Bewusstsein entfalten sich die verschiedenen Funktionen der Psyche, wir können wahrnehmen und uns verhalten. Das Verhalten hat hier eine Doppeldeutigkeit, die wir in der Psychiatrie mit der Dissoziation erklären. Wir verhalten uns gewöhnlich nicht automatisch oder greifen etwas ungezielt an, außer wir sind kataton, haben eine Tic-Störung oder unterliegen Reflexen, bei denen die eigene Kontrolle der Bewegungen oft nicht mehr gänzlich möglich ist. Schmerz ist häufig mit Schmerzreflexen verbunden, ein Verhalten, das wir oft nicht unterdrücken können. So entsteht das Schmerzverhalten, das auf die Vermeidung von Schmerzen abzielt, wie Schonhaltungen oder Vermeidungsverhalten, was im chronischen Bereich dann selbst zu einer Dekonditionierungsspirale mit Sekundärschäden wird.

Schmerzdefinition

Die Schmerzdefinition der Internationalen Schmerzgesellschaft (IASP), mit der Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird, ist seit 45 Jahren von der WHO anerkannt und weltweit akzeptiert. Um neue Forschungsergebnisse zu integrieren und eine Anwendbarkeit bei Tieren zu ermöglichen, wurde von der IASP eine neue Definition erarbeitet. Der Begriff Schmerz wird nun nicht mehr aus der verbal kommunizierten Sicht, die z. B. Kindern oder dementen Patient:innen nur unzureichend zugänglich sein kann, sondern aus der Interaktion des betroffenen Individuums und der reflektierenden Sicht des Behandelnden definiert.

Einem intensiven Diskussionsprozess folgend wurde der Schmerz neu definiert: „Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlichem oder drohendem Gewebeschaden verbunden ist oder diesem ähnelt.“ Ergänzend wird explizit auf das individuelle Schmerzkonzept einer jeden Person mit individueller Lerngeschichte hingewiesen. Dabei wird auf das biologische, psychologische und soziologische Modell Bezug genommen. Der Unterschied zwischen ­Nozizeption und Schmerz wird deutlich herausgearbeitet, daher kann Schmerz nicht mit der Aktivität sensorischer ­Neurone gleichgesetzt werden. Die Schmerzerfahrung eines jeden Menschen wird unvoreingenommen respektiert. Die verbale Schmerzbeschreibung wird nur noch als eine unter vielen Kommunikationsformen von Schmerz gesehen. Die Unfähigkeit, Schmerzen mitzuteilen, schließt nicht aus, dass ein Le­bewesen Schmerzen erfährt. Dies ist natürlich vor allem für das ­vorsprachliche Entwicklungsstadium bei Kindern oder das „nachsprachliche“ Stadium bei Sprachzerfall bei Demenzpatient:innen besonders wichtig.

Dualismus Körper — Psyche

Schmerz ist eine elementare Erfahrung. Dass Körper und Psyche hier gemeinsam betrachtet werden müssen, ist klar, da der Schmerz helfen kann, eine Bewusstseinstrübung zu beenden. Oft wird im Dualismus zwischen Körper und Psyche ein „Entweder-oder“ eingeführt, das bei so elementaren Erlebnissen wie Schmerz oder Angst bzw. Angst vor dem Schmerz zu Fehlinterpretationen führt. Hier braucht es Überlegungen, wie diese Spaltung überwunden werden kann. Beim lebendigen Menschen sind der Körper und die Psyche selbstverständlich eine Einheit.

In der deutschen Sprache hat der Begriff „Leib“ diesen Dualismus zwischen Psyche und Körper nicht. Durch verschiedene Definitionen im philosophischen und religiösen Bereich ist dieser Begriff sehr vieldeutig geworden und in der Medizin nicht mehr allgemein gebräuchlich, außerdem klingt er in unserem modernen Sprachgebrauch oft auch antiquiert.

Subjektives Spüren des Körpers

Der Begriff Leib kann aber mit einer sehr präzisen Definition helfen, diesen Dualismus zu überwinden, ohne vieldeutig und vage zu bleiben. Wird der Leib als ein subjektives Erleben in der Gegend des Körpers, ohne die primären Sinne und ohne den „kognitiven Überbau“, also das persönliche Welt- und Selbstbild, definiert, dann überwinden wir diese komplette Trennung von subjektivem Erleben und Objektivierbarem. Der Leib kann als ein Seinszustand verstanden werden, der sich aus der Enge der Bewusstseinstrübung entfaltet und sich im Wachzustand über die Orientierung in Raum und Zeit zur Situation und zur Person entfaltet: Im Wachzustand zum zielgerichteten Verhalten, im Schlafzustand im Regenerationsmodus und im dissoziativen Zustand im „Flow“, wie beim versunkenen Spielen des Kindes, wie bei einer Meditation oder in einer Trance. In der englischen Sprache wird „embedded“ und „embodied“ als Begriff für diesen Sachverhalt verwendet.