Einblicke in den Alltag einer Betroffenen: Das Leben hat sich nach einer Schilddrüsenoperation sehr verändert. Es kam öfter zu Krämpfen in den Händen und auch im Gesichtsbereich. Schon bei einfachen Alltagstätigkeiten wie Autofahren oder Kamera bedienen kam es zu großen Einschränkungen. Oftmals wurde in die Apotheke gegangen, um Kalziumtabletten zu erwerben. Teilweise wurden 15 Tabletten pro Tag konsumiert. Diese Schilderung ist aus dem Leben einer Patientin mit Hypoparathyreoidismus gegriffen, einer Krankheit, welche die häufigste Komplikation von Operationen an der Schilddrüse darstellt und die gleichzeitig die letzte Hormonerkrankung ist, die als Standardtherapie keinen Hormonersatz hat. Schätzungsweise 2.000–3.000 Menschen leiden in Österreich daran, wobei viele Personen nicht diagnostiziert sind. Im Rahmen einer Fortbildung der Oberösterreichischen Apothekerkammer wurden die Einflüsse der Krankheit auf die Lebensqualität ebenso beleuchtet wie mögliche Hilfestellungen, wobei das erste Ziel eine gesteigerte Awareness für Hypoparathyreoidismus ist.
Priv.-Doz. Dr. med. univ. Karin Amrein, MSc von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Medizinischen Universität Graz erklärte, wie sehr sich Hypoparathyreoidismus auf das Arbeitsleben auswirkt. Bei rund 20 % der Patienten kommt es nach Diagnosestellung zu Änderungen im Arbeitsverhältnis. Bei 72 % der aktuell arbeitslosen Patienten ist die Erkrankung für die Erwerbslosigkeit verantwortlich. Bei 44 % besteht Berufsunfähigkeit.
Doch wie erfolgt die Diagnosestellung? Die Spiegel von Kalzium und Parathormon sind inadäquat niedrig. 70–80 % der Betroffenen haben in der Vorgeschichte eine Operation der Schilddrüse oder der Nebenschilddrüse. Die sehr breite Ätiologie der nichtpostoperativ Betroffenen umfasst zum Beispiel Thalassämie, Hämochromatose oder eine HIV-Erkrankung.
Chronischer Hypoparathyreoidismus ist eine seltene Erkrankung. Aus diesem Grund ist sie wenig im Bewusstsein der Bevölkerung verankert und bleibt außerdem oft lange undiagnostiziert. Die konkreten Probleme sind
• fehlende Awareness: Exemplarisch für die fehlende Wahrnehmung der Krankheit ist eine Publikation aus dem renommierten Journal JAMA. Hier wird als Folge einer Schilddrüsenoperation zwar eine Hypokalzämie als Komplikation erwähnt, nicht jedoch der Hypoparathyreoidismus.1
• diagnostische Verzögerung: Bei vielen Patienten vergehen Jahre, bis die Diagnose endgültig gestellt ist.
• ein Empathy Gap: fehlendes Mitgefühl, vor allem im Fall einer Arbeitsunfähigkeit – 47 % der von postoperativem Hypoparathyreoidismus Betroffenen beschreiben laut Literatur ihre Lebensqualität als deutlich schlechter, verglichen mit der Zeit vor dem Eingriff. Dies trifft nur auf 16 % der Chirurgen und 7 % der Nichtbetroffenen zu.2
• unphysiologische Behandlung: Es existiert keine kausale Standardtherapie, weil das fehlende Hormon nicht ersetzt wird. Die Behandlung erfolgt stattdessen symptomatisch mit Kalzium (intravenös oder oral), Calcitriol, Vitamin D, Hydrochlorothiazid und Magnesium, da manche der Betroffenen auch einen Mangel an diesem Mineral haben.
Die Gabe von Parathormon rhPTH(1–84) erfolgt seit dem Jahr 2017 und zeigt bei vielen Patienten eine deutliche Verbesserung des Beschwerdebildes. Die Anwendung erfolgt subkutan 1-mal täglich in Dosierungen von 25, 50, 75 oder 100 μg. Hinweise auf die Indikation einer rhPTH(1–84) sind neben einer reduzierten Lebensqualität:
Apotheker spielen hinsichtlich eines Hypoparathyreoidismus eine wichtige Rolle in der Aufklärung und Vermittlung. Sie können ihre Kompetenz für mehr Lebensqualität des Patienten einsetzen und wichtige Fragen stellen, wie zum Beispiel zu einer vorangegangenen Schilddrüsenoperation, Symptomatiken wie Krämpfen und einer aktuellen Kalziumdiagnostik. Amrein: „Wenn ein Kunde sehr viel Kalzium braucht, sollte man nachfragen. Eine bei Osteoporose übliche Kalziumsupplementierung geht selten über 1 Tablette Kalzium pro Tag hinaus. Die Apotheke ist daher eine gute Stelle, um zu sagen, hier stimmt etwas nicht.“ Apotheker können den Patienten somit nicht nur in seinen Bedürfnissen abholen, sondern bei Verdacht auf Hypoparathyreoidismus auch weiterleiten bzw. appellieren, sich diagnostizieren zu lassen.
Literatur: