Dr. Jan Oliver Huber, Leiter des Gesundheitspolitischen Forums und Vorstandsmitglied der Karl Landsteiner Gesellschaft, kritisierte in seinem Eröffnungsstatement, dass in den letzten Jahren Reformen im Gesundheitsbereich gefehlt hätten, worunter die Versorgung durchaus gelitten hätte. Zudem bräuchte die mentale Gesundheit mehr Aufmerksamkeit. Der Notwendigkeit, die psychische Gesundheit mehr ins Zentrum zu rücken, stimmte Prim. Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Martin Aigner, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP), voll und ganz zu und begründete seinen Standpunkt u. a. mit dem Umgang mit Psychopharmaka-Innovationen: „Diese werden nur an den Medikamentenkosten und nicht an den sozialen Auswirkungen gemessen.
Aber gerade die mentalen/psychiatrischen Erkrankungen wirken nach außen, z. B. führen Suchterkrankungen oftmals zum Arbeitsplatzverlust etc. Innovative Medikamente sollten daher im Bereich Psychiatrie auch einsetzbar sein – derzeit scheitert das teilweise an den Kosten“, so Aigner. Dabei würden die neueren, innovativen Medikamente oftmals eine raschere Rückkehr der Betroffenen an den Arbeitsplatz ermöglichen: „Auch das muss bei der Kostenbewertung eine Rolle spielen!“ Aigner betont, dass daher gute Daten aus dem psychiatrischen Bereich erforderlich sind, um den Wert von innovativen Medikamenten in seiner Vielschichtigkeit abbilden zu können. Weiters sprach sich Aigner für eine Ausweitung der ambulanten Behandlung sowie von ambulanten Einrichtungen wie Tageskliniken im psychiatrischen Bereich aus: „Die stationären Betten werden wir zunehmend für die älteren Menschen benötigen, denn im Alter nehmen auch die psychiatrischen Erkrankungen zu, schon allein durch die demografische Entwicklung“. Weiters ist es aus seiner Sicht notwendig, vermehrt junge Ärzt:innen für den Fachbereich der Psychiatrie zu interessieren, um den Nachwuchs sicherzustellen.
Dr.in Alexandra Ferdin, MSc, Leiterin der Abteilung für strukturpolitische Planung und Dokumentation im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), betonte in ihrem Vortrag, dass der Österreichische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) Planungsaussagen für ambulante und akutstationäre Versorgung sowie ambulante und stationäre Rehabilitation enthalte. Erklärtes Ziel sei es, durch die Strukturqualitätsvorgaben in den verschiedenen Versorgungsstrukturen österreichweit gleiche Versorgungsstandards zu erreichen, „beides im Sinne eines ‚Best-point-of-service‘ für die Patient:innen“, so Ferdin. Der ÖSG 2017 wird in der Zielsteuerung-Gesundheit von den Zielsteuerungspartnern (SV, Länder und Bund) kontinuierlich weiterentwickelt: „Beispielsweise sollen aktuell die Planungsrichtwerte für Kinder- und Jugendpsychiatrie aktualisiert werden“, berichtet Ferdin. Die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen im Bereich mentale Gesundheit ist auch aus Sicht des BMSGPK ein wesentlicher Aspekt. „Beispielsweise wird aktuell an der Etablierung regionaler kinder- und jugendpsychiatrischer Netzwerke unter Einbeziehung aller Anbieterstrukturen sowie an dem Ausbau der extramuralen Versorgung, teilweise mit neuen, innovativen Ansätzen und Pilotprojekten wie z. B. Home Treatment in Wienn, gearbeitet“, so Ferdin weiter. Sie sieht aktuell die Herausforderung darin, erfolgsversprechende regionale Pilotprojekte auf ganz Österreich auszurollen und in eine Regelfinanzierung (erfolgt aus verschiedenen Finanzierungstöpfen, z. B. regionale Gesundheitsfonds, Sozialversicherung und Mittel aus Sozialbudgets) überzuführen.
Über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Depressionen in Österreich sprach anschließend Dr. Martin Gleitsmann, Senior Researcher bei Economica, und legte dabei den Fokus auf therapieresistente Depressionen (TRD). Dabei widmete er sich sowohl den pekuniären als auch den nichtpekuniären Kosten. Zu den pekuniären Kosten gehören sowohl die direkten (bewerteter Ressourcenverbrauch für Gesundheitsdienstleistungen und -güter) als auch die indirekten Kosten (volkswirtschaftliche Kosten aufgrund von weniger Produktivität am Arbeitsplatz, mehr Krankheitstagen, frühzeitigem Tod oder frühzeitiger Pensionierung). Die nichtpekuniären Kosten, die nicht monetär messbar sind, entstehen durch Folgeerscheinungen von Krankheiten und beziffern massive Einbußen von Lebensqualität sowie verlorene Lebensjahre bei den Betroffenen. Er fasste zunächst die Zahlen bezüglich Depressionen in Österreich zusammen: Eine ärztliche Diagnose Depression haben in Österreich rund 1,177 Mio. Personen. Die Anzahl der TRD, die keine eigenständige Diagnose ist und daher in Gesundheitsstatistiken nicht explizit erfasst wird, beträgt rund 43.700. Laut der von Gleitsmann präsentierten Studien belaufen sich die direkten Kosten für alle TRD-Betroffenen auf 345 Millionen € pro Jahr. „Dabei fällt auf, dass der Anteil für die Arzneimittelkosten mit 10,8 Millionen € pro Jahr im Vergleich zu den 66 Millionen € für ambulante Leistungen und 212,9 Millionen € für stationäre Leistungen (Psychatrie) sehr gering ausfällt. Weitere 16,8 Millionen € entfallen auf die Intensivstationen sowie 38,6 Millionen € auf die Diagnostik“, so Gleitsmann. Die indirekten Kosten belaufen sich auf 684,7 Millionen € pro Jahr. Die nichtpekuniären Kosten werden in „disability-adjusted life years“ (DALYS) gemessen. Bei den TRD-Patient:innen kommt hier eine Summe von 29.884 Jahren, die durch frühzeitigen Tod beziehungsweise Verlust von Lebensqualität verloren gehen, zusammen.
Dr.in Silke Näglein, Ärztin für Allgemeinmedizin und im Medizinischen Dienst der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) tätig, berichtete in ihrem Vortrag über die Versorgungssituation der ÖGK im Bereich der mentalen Gesundheit und betonte, dass nicht nur die Planstellen für Kassenärzt:innen laut Strukturplan Gesundheit aktuell ausgebaut werden, sondern auch die Sachleistungsstunden im Bereich der nichtärztlichen Psychotherapie erhöht wurden. „Weiters widmet sich die ÖGK u. a. in Kindergärten, Schulen und Lehrausbildung der Stärkung der psychosozialen Gesundheit“, so Näglein. Ein sehr wichtiger Punkt sei auch die Gesundheitsbildung, um die es in Österreich nicht sehr gut bestellt sei und die man bereits im Kindesalter vorantreiben sollte. „In unserem immer komplexer werdenden Gesundheitssystem wäre zudem die Schaffung von Gesundheitslotsen – digital oder analog – sinnvoll, um Patient:innen Hilfestellungen anzubieten“, ist Näglein überzeugt. Einen Bedarf an Innovationen sieht sie im Bereich Psychiatrie bei den Arzneimitteln, denn „die Medikamentenkosten sind im psychiatrischen Bereich deswegen so niedrig, weil die meisten Präparate sehr alt sind und daher wenig kosten“, merkte sie betreffend der von Gleitsmann präsentierten Zahlen an. Ein innovativer Zugang wäre aus Nägleins Sicht aber auch bei der Finanzierung des Gesundheitssystems erforderlich: „Eine nachhaltige Gesundheitsfinanzierung braucht eine bessere Abstimmung zwischen allen Playern. Das würde viele Probleme lösen.“