Kundl in Tirol sei für eine globale Pharmaproduktion in etwa so zentral gelegen wie Laax im Schweizer Graubünden, soll der ehemalige Novartis-Boss Daniel Vasella vor rund 15 Jahren bei einer Bilanzpräsentation gesagt und damit in Tirol Sorge vor der Schließung der Produktion in Tirol ausgelöst haben. Kundl ist unter anderem eine der letzten Produktionsstätten von Penicillin außerhalb Chinas. Zwar wurde Kundl in den vergangenen Jahren immer wieder ausgebaut, doch das Schreckgespenst des ungünstig gelegenen Standortes blieb. Ein Medienbericht, wonach die Novartis-Tochter Sandoz die Antibiotika-Herstellung in Kundl einstellen will, sorgte im Sommer wieder für Aufregung. Im Oktober folgte dann ein Aufatmen: Der Konzern gab bekannt, dass der zu Novartis gehörende slowenische Pharmakonzern Lek seine Fertigproduktion für orale Penicilline nach Kundl verlegen wird. Zwei Wochen später dann erneut Aufregung: Novartis strukturiere im Rahmen eines globalen Transformationsprozesses seine Standorte in Österreich um und baue massiv Stellen ab. An den beiden Sandoz-Produktionsstandorten in Tirol (Kundl und Schaftenau), wo rund 4.000 Beschäftigte arbeiten, sollen mehrere Hundert Arbeitsplätze vom Umbau betroffen sein: nicht zuletzt in der Antibiotikaproduktion, berichtete der Kurier. Bestätigung dafür gab es bisher keine. Seither herrscht Stillschweigen.
Die Debatte passt aber ins Bild: Pharmakonzerne stoppen zunehmend die Forschung zu neuen Antibiotika, obwohl WHO und EU vor zunehmenden Resistenzen warnen. Neue Produkte seien wirtschaftlich nicht attraktiv, sagen die Unternehmen. Der Internationale Pharmaverband (IFPMA) hatte zwar erst 2016 eine „Industrie-Allianz“ („AMR Industry Alliance“) zum Kampf gegen die Resistenzen gegründet. Etwa 100 Unternehmen hatten eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin sagten sie unter anderem zu, in die Forschung in diesem Bereich zu investieren. Doch obwohl die Ausbreitung resistenter Keime als eine der größten globalen Gefahren gesehen wird, stoppen Pharmaunternehmen nun zunehmend die Forschung an neuen Antibiotika. Beobachter berichten, dass fast die Hälfte der Firmen, die unterzeichnet und 2016 zu Antibiotika geforscht haben, mittlerweile nicht mehr in dem Bereich aktiv ist. „Die Antibiotikaforschung stellt die Unternehmen, die sich darin engagieren, vor extreme Herausforderungen: Die Erfolgsquote von Entwicklungsprojekten für neue Antibiotika beträgt nicht einmal ein Prozent“, sagt Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog. „Wird trotz hohen Risikos nach vielen Jahren und hohen Investitionen erfreulicherweise ein neues Antibiotikum auf den Markt gebracht, so gilt für dessen Anwendung: Es ist sorgfältig und möglichst selten einzusetzen, um neue Resistenzen zu verhindern. Damit haben die Unternehmen nur eine sehr begrenzte Aussicht auf einen Return-on-Investment.“
Das Beispiel ist bezeichnend für die Situation in der Industrie und nach Ansicht vieler Beobachter Ursache für aktuelle Lieferprobleme bei Medikamenten. Betroffen sind meist ältere Medikamente, deren Patentschutz längst abgelaufen ist. Aufgrund der Konkurrenz durch Generika sind deren Preise massiv unter Druck gekommen. Viele kleinere Hersteller haben sich daher zurückgezogen oder wurden übernommen. Dadurch hat sich die Produktion vieler Medikamente auf wenige Hersteller konzentriert. Diese wiederum sind manch mal auf einen einzigen Wirkstoffproduzenten angewiesen – und der sitzt oft in Indien oder China. Fällt dieser aus, kommt es zu einem weltweiten Engpass.
In Österreich werfen sich derzeit wie berichtet Pharmaindustrie, Großhandel und Apotheken gegenseitig vor, schuld an den zunehmenden Lieferengpässen bei Medikamenten zu sein. Doch die Debatte ist offenbar nicht nur auf Österreich beschränkt: Die renommierte Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ortet ebenfalls Lieferprobleme in Deutschland und spricht von einem „beschämenden Zustand für das Gesundheitssystem“ in einem der reichsten Länder. Auch in der Schweiz – mit Basel immerhin eines der europäischen Kernländer der Pharmaindustrie – sind laut Medienberichten aktuell bis zu 600 Medikamente nicht verfügbar. Die als wirtschaftsliberal bekannte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) spricht sogar von „Marktversagen“. Der Engpass bei Medikamenten scheint vor allem ein globales Phänomen zu sein.
„Die primäre Verantwortung, die Lieferfähigkeit von Arzneimitteln aufrecht zu erhalten, liegt grundsätzlich beim Zulassungsinhaber beziehungsweise beim Großhändler“, sagt Gesundheitsministerin Brigitte Zarfl im Apotheker Krone-Interview zur jüngsten Debatte. „Insgesamt ist das Problem der Liefereinschränkungen ein europäisches beziehungsweise sogar globales“, sagt Zarfl. Eine Taskforce, die vom Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen geleitet wird, arbeite an Möglichkeiten, um auftretende Engpässe früher transparent machen zu können und somit fallbezogen und noch frühzeitiger Gegenmaßnahmen einleiten zu können. „Auch ein fallbezogenes Exportverbot bei besonders kritischen Engpässen wurde in der Taskforce vereinbart. Die Umsetzung ist in Vorbereitung, da mein Ressort eine entsprechende Verordnung zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in Begutachtung geschickt hat. Sie wird einen ersten wichtigen Schritt darstellen, Engpässe zu erkennen und zeitgerecht gegenzusteuern“, sagt die Ministerin.
Damit werden zwei Punkte angesprochen, die aktuell in Diskussion stehen: Der neue Pharmig-Präsident Philipp von Lattorff (Boehringer Ingelheim) sagte zuletzt in einem Antrittsinterview: „Dass wir produktionsbedingt nicht liefern können, ist nur zu einem kleinen Teil für Probleme verantwortlich. Der größere Teil liegt im Export von Arzneimitteln. Großhändler und Apotheken machen sich ein Körberlgeld. Sie sammeln auf dem österreichischen Markt Arzneimittel ein und verkaufen sie in die EU.“ Die Preisunterschiede könnten pro Packung bei teuren innovativen Medikamenten dreistellige Summen ausmachen. Um das zu vermeiden, hätten zahlreiche Pharmakonzerne ihre Produkte aus dem österreichischen Pharmagroßhandel genommen. Geliefert wird nur noch über Pharma-Logistik-Unternehmen an die Apotheken. Doch um teure Medikamente scheint es nicht ausschließlich zu gehen. Betroffen sind von den Lieferengpässen vor allem langjährige und billige Massenprodukte. Und damit lassen sich auch durch Parallelexporte nichts verdienen, sagt ein Apotheker. Das zweite Thema ist die Transparenz: Ärzte und Apotheker drängen die Industrie darauf, rasch bekannt zu geben und vorzuwarnen, wenn Lieferengpässe drohen. Hier will man offenbar nun auch die Regelungen strenger machen.
Die Gesundheitsministerin lässt aber auch durchblicken, wo sie die Probleme sieht: „Eine Vielzahl der Wirkstoffe wird derzeit bereits in Asien hergestellt. Sollten in diesen Betrieben Probleme auftreten – technischer Art, Qualitätsprobleme, Naturkatastrophen, Streiks, oder anderes –, kann der Marktbedarf mittelfristig nicht mehr abgedeckt werden.“ Die Lösungen auf diese Fragen und Herausforderungen könnten nicht national alleine gefunden werden, ist sie überzeugt.
Ein Ausweg bestünde hier vor allem darin, gerade die Preise für niedrigpreisige Medikamente anzuheben. Das würde trotz der globalen Probleme auch national schon eine Lösung bringen, sagen Experten. Liegt Österreich über dem Preisniveau anderer Länder, bekämen Lieferungen hierher auch ein anderes Gewicht für die Pharmabranche. Das Problem dabei: es wird für die Krankenkassen, die per Gesetz zum sparsamen Umgang mit ihren Mitteln verpflichtet sind, schwer, mehr zu zahlen als andere Länder. Eine Lösung ist hier aber vor allem aufgrund der laufenden Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger nicht in Sicht. Man hat schlichtweg andere Themen auf der Agenda.