Die Mundhöhle des Menschen beherbergt hochkomplexe mikrobielle Gemeinschaften. Insgesamt wurden bereits mehrere hundert Prokaryoten identifiziert, die unterschiedliche Habitate besiedeln. Die Besiedelung der Zähne, des gingivalen Sulkus, der Gingiva, der Zunge, der Wange, der Lippe und des harten und weichen Gaumens führt insgesamt zu einem heterogenen ökologischen System, dem in der Immunabwehr eine bedeutende Rolle zukommt.1
Die Zusammensetzung der Bakterien in der Mundhöhle steht in einer dynamischen Beziehung zum Wirt. Physiologische Veränderungen im Alterungsprozess haben ebenso Einfluss wie hormonelle Veränderungen (Pubertät, Schwangerschaft) und der Lebensstil sowie die individuelle Mundhygiene. Kommt es als Folge einer Störung des Ökosystems „Mundhöhle“ zu einer dysbiotischen Verschiebung, können pathogene Mikroorganismen mengenmäßig die Oberhand gewinnen und zu systemischen und lokalen Konsequenzen führen.1
Ein Beispiel für eine Erkrankung, die auch durch eine Dysbiose des Mundmikrobioms entstehen kann, ist Karies, wie Dr. Wolfgang Luxenberger, Facharzt für Hals- Nasen-Ohren-Heilkunde, im Gespräch mit der Apotheker Krone erklärt. „Wenngleich es interindividuelle Unterschiede gibt und dem Lebensstil eine große Bedeutung zukommt, ist mittlerweile gesichert, dass die Mundflora eine Rolle für die Entstehung dieser Krankheit spielt.“ Das Thema sei es wert, weiter beforscht zu werden: „Eine gute Mundhygiene und die Reinigung von Zungenbelägen sind wichtig. Aber auch gezielte Eingriffe in das Mundmikrobiom können sich als hilfreich erweisen, wie erste Studien zeigen.“
Ein anderes Problem, das durch Dysbiose in der Mundhöhle entstehen kann, ist Mundgeruch (Halitosis). „Patienten mit diesem Problem waren oft schon beim Zahnarzt, haben HNO- und Magenuntersuchungen hinter sich, und trotzdem wurde keine Ursache gefunden. Sie bekommen oftmals vermittelt, dass es keine Lösung gibt, und werden mit der Empfehlung, mit Salbei zu gurgeln, entlassen. Dabei wird oft nicht bedacht, dass die Rachenflora einen Einfluss auf die Entstehung des Mundgeruchs haben könnte“, schildert Luxenberger aus der Praxis. In diesem Fall könne man mit Optimierungen der bakteriellen Zusammensetzung helfen: „Ich habe damit bei Patienten bereits gute Erfolge erzielt.“
Ein spannendes Thema ist auch die Vermeidung von Halsinfektionen. „Bisher wissen wir, dass sich eine gut balancierte Rachenflora günstig auf die Infektanfälligkeit bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen auswirkt“, sagt Luxenberger. Weiterführende Studien seien nun notwendig, um mehr über den Einfluss einzelner Keime zu erfahren. „Wir haben ein Defizit in der Forschung“, meint der Experte. „Wir konzentrierten uns in den vergangenen Jahrzehnten sehr auf pathogene Keime als Auslöser von Infektionen, sollten aber versuchen, insgesamt eine gesunde Flora zu fördern.“ Dieser komme eine wesentliche Funktion in der Immunabwehr zu. „Der Mensch muss in einer guten Symbiose mit der Umwelt leben, und dazu gehören Bakterien. Keimfreiheit ist utopisch und auch nicht sinnvoll, da unser System mit den Keimen aus unserer Umgebung sehr verwoben ist.“
Eng verbunden sind auch die einzelnen Abschnitte des HNO-Systems. „Das Mittelohr hängt mit dem Nasenrachen und der Nase zusammen, Rachenentzündungen können sich in Kehlkopf- und Luftröhre ausbreiten, weil die gesamte Schleimhaut der oberen Atemwege sehr ähnliche Keime bzw. eine ähnliche Bakterienflora aufweist“, erklärt Luxenberger. „Aus einem Schnupfen kann eine Ohrenentzündung entstehen, ganz besonders bei Kindern, weil bei diesen die Verbindungswege enger als bei Erwachsenen sind.“ Es verwundere daher auch viele Patienten, dass bei Mittelohrentzündungen oftmals ein Nasenspray verabreicht wird. „Damit versuchen wir, sich verselbständigende Entzündungen durch Wiederherstellung der Belüftung zu durchbrechen.“ Das Mikrobiom spielt dabei stets eine Rolle. „Es verändert sich je nach funktionierender Belüftung und Drainage.“
Als wertvolles Bakterium für die Funktion des oralen Mikrobioms erwies sich in Studien der Streptococcus salivarius K12. Der Keim stimuliert entzündungshemmende Reaktionen (zum Beispiel von den proinflammatorischen Zytokinen IL-6 und IL-8) und zeigt eine gute Anheftung an die epithelialen Oberflächen des Nasopharynx, wodurch die Schleimhautbarriere gestärkt wird.2–4 Erfolge wurden auch im Hinblick auf das Auftreten von viralen HNO-Infekten bei Kindern und Erwachsenen erzielt.
Die gezielte Abgabe von probiotischen Stämmen sieht HNO-Facharzt Luxenberger positiv: „Erste Studien weisen in eine gute Richtung, was den Nutzen betrifft. Außerdem geben wir Betroffenen auch das Gefühl, dass sie selbst etwas beitragen können. Das ist in dieser Zeit sehr sinnvoll.“
Das orale Mikrobiom: faszinierende Zahlen und Fakten1, 2, 3
Quellen: 1 Rupf S, Hanning M, Zahnmedizin 23_24/2020; 2 Nimish Deo P, Deshmukh R, Oral microbiome: Unveiling the fundamentals. J Oral Maxillofac Pathol 2019 Jan–Apr; 23(1):122–128; 3 Caselli E, Fabbri C, D’Accolti M et al., Defining the oral microbiome by whole-genome sequencing and resistome analysis: the complexity of the healthy picture. BMC Microbiology 2020; 20(1):1 20
Literatur: