Mit Lernprozess der Krise entkommen

COVID-19 hat – auch – der hochentwickelten und im globalen Vergleich sehr reichen Gesellschaft Österreichs einen Spiegel vorgehalten. Auch buchstäblich durch die Wohlstandsgeschichte verschüttete Fragen wurden wieder akut. „Bis vor etwa einem Jahr hätten wir den Begriff der ‚Gesundheitspolizey‘ in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts angesiedelt. Heute werden ‚Corona-Sünder‘ vernadert, müssen plötzlich Polizeiverwaltungsstrafen zahlen oder werden gar strafgerichtlich verfolgt“, sagte Dr. Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der Kammer für Arbeiter und Angestellte NÖ. „Health in all Policies – eine gefährliche Drohung oder Chance in Krisenzeiten?“, „Arzneimittelversorgung – was lernen wir aus der Krisensituation?“ und „Auswirkungen eines Blackouts auf den Gesundheitssektor“ waren Themen der von Dr. Jan Oliver Huber als Leiter des Gesundheitspolitischen Forums moderierten Online-Veranstaltung.

 

 

Im Grunde genommen handelt es sich bei diesen Fragen um potenzielle Konfliktfelder, die zum größten Teil auch schon vor SARS-CoV-2 bekannt waren. Oder um solche, welche die Gesellschaft in Österreich in Wohlstandszeiten nur allzu gern ignoriert hat. „In unserer arbeitsteilig organisierten Welt werden gesunde Avocados aus Südamerika, lebenswichtige Medikamente aus Indien und FFP-2-Masken aus Afghanistan nach Österreich geliefert – oder auch nicht, wenn ausländische ‚Mächte‘ Exportwaren beschlagnahmen oder mit hohen Kaufpreisangeboten Verträge aushebeln“, so Rupp.

Und dann sind es noch die Menschen selbst, die – mehr oder weniger gut informiert – auf individuelle rationale oder irrationale Weise reagieren. „Hygieneregeln werden nicht von allen eingehalten. Manche finden gar Garagenpartys lustig“, sagte Rupp.

„Health in all Policies“

Im Grunde sollte wohl das in der Vergangenheit bei weitem nicht immer ernst genommene Prinzip von „Health in all Policies“ endlich Realität werden. Der Gesundheitspolitikexperte: „Es gibt keinen Politikbereich, der nicht auch Einfluss auf die Gesundheit hat. ‚Health in all Policies‘ zielt darauf ab, dass es Einflussbereiche auf die Gesundheit auch von außerhalb des Gesundheitswesens selbst gibt.“ Nachhaltig könne man Gesundheit am besten fördern, wenn man das Leben insgesamt gesünder mache.Interessant, wie gerade im Verlauf der aktuellen Pandemie sogar sprichwörtlich „totes Recht“ wieder diskutiert wird. So sieht § 17 Abs. 3 des österreichischen Epidemiegesetzes eben seit Jahrzehnten die Möglichkeit einer Impfpflicht für „Personen, die sich berufsmäßig mit der Krankenbehandlung, der Krankenpflege oder der Leichenbesorgung beschäftigen, sowie für Hebammen“ vor, welche die zuständige Bezirkshauptmannschaft in Kraft setzen könne. „Man hat geglaubt, das sei ‚totes Recht‘. Irren ist eben menschlich“, erklärte Rupp.
Im Endeffekt zeigten die aktuellen Diskussionen über Themen wie „Polizei zu Gesundheitsbehörde umfunktioniert – Nehammers ‚Gesundheitspolizei‘“, „Bespitzelung: Die ach so lieben Nachbarn“ oder Ähnliches, man brauche keine „aufgeklärte Despotie“, sondern einen bürgerlichen Diskurs über eine gesellschaftlich ­akzeptable und resilienzorientierte Umsetzung von „Health in all Policies“, wobei gerade durch SARS-CoV-2 der Wert der „öffentlichen Gesundheit“ wieder zutage gekommen sei. Rupp: „Wir müssen die Herzen und die Gehirne der Menschen erreichen. Wir brauchen dazu Investitionen in Bildung, Bildung und nochmals Bildung!“

Bekannte Probleme in neuer Schärfe: Liefer- und Versorgungsengpässe

„Dass es Liefer- und Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln geben kann und gibt, war vor der Pandemie auch schon bekannt. Aber es wurde allen verstärkt bewusst, dass etwas dagegen geschehen muss und dass die Probleme nicht von selbst verschwinden werden. Es handelt sich um ein globales Problem“, sagte DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin des Geschäftsfeldes AGES MEA (Medizinmarktaufsicht).
Viele verschiedene Faktoren trugen und tragen dazu bei, dass es faktisch permanent zu Schwierigkeiten in der Arzneimittel-Lieferkette kommt bzw. kommen kann: enormer Preisdruck, Parallelexporte, Pharma-Merger, Produktionsauslagerungen in Billiglohnländer, mangelnde Pufferlagerhaltung, Qualitätsprobleme und – im Krisenfall – plötzlich stark ansteigender Bedarf für Arzneimittel, die einfach nur noch auf Bestellung produziert werden.

Dr. Wirthumer-Hoche: „Da ist zum Beispiel der irre Preisdruck auf Medikamente. Das betrifft vor allem ‚alte‘, nicht mehr patentgeschützte Arzneimittel. Die müssen immer billiger abgegeben werden. Ich persönlich verstehe nicht, dass Generika zu so niedrigen Preisen abgegeben werden.“ Aber wenn man höre, dass 50 % solcher Produkte auf dem globalen Medikamentenmarkt „billiger als eine Briefmarke“ seien, könne das eben nur zur Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer wie Indien oder China führen.
Merger und diese Verlagerungen führen auch zu einer zunehmenden Monopolisierung bei bestimmten Wirkstoffen bzw. Vorprodukten. „Paracetamol ist ein Lehrstück. Da sind wir zu nahezu 100 Prozent auf Indien angewiesen“, sagte Christa Wirthumer-Hoche. Das schlage schließlich vermehrt in einer Krisensituation durch.
Freilich, in der EU wurde die Sicherstellung der Erhältlichkeit zugelassener Arzneimittel bereits als Top-Priorität erkannt. So definierte man 2019 zunächst einmal den Begriff von Liefer- und Versorgungsengpässen. Eine EU-Richtlinie legt auch fest, dass Zulassungsinhaber innerhalb ihrer regionalen Verantwortlichkeit dafür Sorge tragen müssen, dass sie den Markt ausreichend beliefern können. Zu definieren sind auch jene „kritischen Arzneimittel“, ohne deren Verfügbarkeit Menschen schweren Schaden erleiden oder gar sterben können.

In Österreich gibt es seit April 2020 eine Meldepflicht für Vertriebseinschränkungen von zugelassenen rezeptpflichtigen Humanarzneimitteln. „Derzeit findet man in dem öffentlich zugänglichen Register 354 Einträge“, erklärte die Expertin. „Transparenz ist absolut wichtig. Ein wichtiges Ziel von uns ist es auch, das Register mit der Ärztesoftware in den Arztpraxen zu koppeln.“ Dann könne der niedergelassene Arzt bei der Verschreibung sofort auf die Liefersituation Rücksicht nehmen.

Die Meldungen über den möglichen Effekt von Budesonid-Asthma-Medikamenten in der Verhinderung von schweren COVID-19-Verläufen hat erst vor kurzem gezeigt, wie schnell sich eine Liefersituation ändern kann. Dr. Christa Wirthumer-Hoche: „Wir haben eine Steigerung (der Nachfrage; Anm.) um 300 bis 400 Prozent gehabt. Wir mussten schauen, dass zunächst die Asthmapatienten weiterhin versorgt werden.“ Kontingentierung und das Verbot von Parallelexporten sollen hier Einflussmöglichkeiten bieten.
Von Vorprodukten, Hilfsstoffen und Wirkstoffen, von Liefer- und Transportwegen bis hin zur Versorgung von Apotheken und Spitälern zieht sich also dieser Fragenkreis. Die Komplexität des Themas hat aber auch dazu geführt, dass in der EU über den Aufbau einer rollierenden Lagerhaltung für kritische Medikamente nachgedacht wird. „Eine Lagerhaltung der üblichen Liefermengen für fünf Monate würde 85 Prozent aller Lieferengpässe vermeiden helfen“, erklärte die Expertin. Die Kosten würden wahrscheinlich entlang der Lieferkette verteilt werden.

Blackout – die wahrscheinliche Katastrophe

Bleibt ein Szenario, das wohl niemand gern kennenlernen will, bei dem die Verdrängung aber offenbar am stärksten ist: ein Blackout der Stromversorgung. Die klare Aussage von Herbert Saurugg, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) lautet: „Der Gesundheitssektor ist auf einen Blackout nicht vorbereitet.

Ein überregionaler, weite Teile Europas betreffender Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall ohne existierende Hilfsmöglichkeiten von außen ist sprichwörtlich ein „GAU“. Vorsorgemaßnahmen müssten auf allen Ebenen, vom privaten Haushalt bis zu den Versorgungssystemen, Handel und Industrie, erfolgen. „Das verteidigungspolitische Risikobild 2020/2021 für Österreich geht von einem sehr wahrscheinlichen Blackout binnen der nächsten fünf Jahre aus“, erklärte der Experte.

Das Grundproblem, laut Saurugg: „Ein Blackout wird viel zu viel als ‚technisches Problem‘ gesehen.“ Im Endeffekt sei er aber ein organisatorisches Problem, das die gesamte Gesellschaft schachmatt setzen kann. Das geht bis in das private Leben von Familien: „Ein Drittel der Menschen ist maximal vier Tage zur Eigenversorgung fähig, ein weiteres Drittel maximal sieben Tage.“ Mit den akuten Auswirkungen eines echten Blackouts müsse man aber im Gesundheitswesen − wie in allen übrigen Bereichen der Gesellschaft auch − über einen Zeitraum von Wochen bis Monaten rechnen. Vorsorge müsse also auf allen Ebenen getroffen werden. Nur ein Teilszenario, das schnell in die Katastrophe führen kann, ist der Ausfall der Handynetze. – Stell dir vor, es geht das Licht aus!

 

 


Quelle: 116. Gesundheitspolitisches Forum am 27. April 2021. Health in all policies – eine gefährliche Drohung oder Chance in Krisenzeiten? Arzneimittelversorgung – was lernen wir aus der Krisensituation? Die Auswirkungen eines Blackouts auf den Gesundheitssektor.