Naturgemäß viel beachtete Neuerungen gab es im letzten Jahr bei der COVID-19-Therapie. Da das SARS-CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus Type 2) mittels seiner Spike-Proteine an den sogenannten ACE2-Rezeptor andockt, rief Spreitzer eingangs die Funktionen der Angiotensin-converting-Enzyme (ACE und ACE2) in Erinnerung: Die Vorstufe des blutdrucksteigernden und gefäßverengenden Angiotensins II, Angiotensinogen, wird in den Hepatozyten gebildet. Das Enzym Renin, das in der Niere gebildet wird, spaltet aus dieser Vorstufe ein zehn Aminosäuren langes Stück ab – das Angiotensin I. Aus letzterem wird schließlich mithilfe des ACE das Octapeptid-Angiotensin II freigesetzt. Etwa um die Jahrtausendwende entdeckte man, dass an dieser Stelle der Signalweg aber noch nicht zu Ende ist, sondern dass es nachgeschaltet noch das Enzym ACE2 gibt. Dieses spaltet aus Angiotensin II ein Heptapeptid ab. Spreitzer: „Dieses kleine Stück, welches jetzt übriggeblieben ist, hat interessanterweise eine gefäßerweiternde und eine blutdrucksenkende Wirkung, das genaue Gegenteil von Angiotensin II.“ ACE2 hat daher ganz offensichtlich eine wichtige Funktion im physiologischen Regelkreis der Blutdruckeinstellung. In diesem Zusammenhang ist es Spreitzer auch wichtig, zu betonen, dass die Arzneistoffgruppe der ACE-Inhibitoren in keiner Weise mit ACE2 interagiert. Nach diesen Erläuterungen kehrt der Vortrag zurück zu SARS-CoV-2: Nach dem Andocken an den ACE2-Rezeptor fusioniert es mit der Wirtszelle und vermehrt sich dort. Auf Basis der Informationen der viralen RNA werden in den Ribosomen Virus-Polyproteine produziert, die anschließend von einer viralen Protease – vereinfacht ausgedrückt – in kleinere Proteine geschnitten werden. Letztere können im weiteren Verlauf wieder zu neuen Virusbestandteilen zusammengebaut werden. Neben der erwähnten Protease gibt es im Vermehrungsprozess ein weiteres wichtiges Enzym, das die virale RNA kopieren und somit vervielfältigen kann: die Virus-RNA-Polymerase. Mit diesen zwei erwähnten Enzymen gibt es zwei wichtige Angriffspunkte für Arzneistoffe.
Paxlovid® besteht aus zwei Komponenten: Nirmatrelvir und Ritonavir mit völlig unterschiedlichen Funktionen. Nirmatrelvir blockiert die oben erwähnte virale Protease, genauer gesagt die SARS-CoV-2-Protease 3CL. Spreitzer erläutert: „Damit geht eines nicht: Die Proteinbausteine werden nicht freigesetzt, es gibt letzten Endes keine Virenreplikation.“ Da Nirmatrelvir durch CYP3A4 abgebaut wird, ist ein zusätzlicher Booster nötig, um bei möglichst schonender Dosierung ausreichend hohe Wirkspiegel zu gewährleisten. Die Funktion als Booster übernimmt in diesem Fall Ritonavir, ein potenter Hemmer von CYP3A4. In dieser Funktion verzögert Ritonavir den vorschnellen Abbau von Nirmatrelvir. Da aber sehr viele Wirkstoffe über CYP3A4 abgebaut werden, ist das Interaktionspotenzial von Paxlovid hoch und vor allem in Kombinationen mit Arzneistoffen mit geringer therapeutischer Breite sogar kontraindiziert. Spreitzer: „Man muss in diesem Zusammenhang bedenken, dass Paxlovid vorrangig für Menschen mit hohem Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf bestimmt ist und solche Patient:innen naturgemäß mehrere Medikamente einnehmen müssen. Genau dieser Umstand führte zu einem eher zögerlichen Einsatz des Präparats.“ Die Therapie mit Paxlovid® soll möglichst frühzeitig begonnen werden, spätestens fünf Tage ab Symptombeginn, es wird zweimal täglich für fünf Tage eingenommen. Wichtige Kontraindikationen sind schwere Nieren- bzw. Leberschwäche und Schwangerschaft. Sehr häufig beobachtet man als Nebenwirkungen Durchfall, Geschmacksstörungen (meist metallischer Geschmack) und Kopfschmerzen. In einer durchgeführten Studie mit 2.246 Patient:innen mit Risiko für einen schweren Verlauf (über 18 Jahre, nicht geimpft, symptomatisch, Delta-Variante) hat man eine relative Risikoreduktion von knapp 90 % für die primären Endpunkte Hospitalisierung oder Tod gesehen, was laut Spreitzer ein sehr beachtliches Ergebnis darstellt.
Lagevrio® ist eine Alternative für Personen, die aufgrund des Interaktionspotenzials von Paxlovid® nicht damit behandelt werden können. „Molnupiravir ist ein Prodrug und benötigt eine Schutzgruppe, damit es nicht zu rasch im Darm abgebaut wird“, erklärte Spreitzer: „Der eigentlich aktive Wirkstoff ist eine sogenannte ‚falsche Base‘, sie imitiert in diesem Fall Cytidin und Uridin und wird als solche von der bereits erwähnten Virus-RNA-Polymerase in die RNA eingebaut.“ Er erinnert an die Basenpaare Adenosin-Uridin oder Guanosin-Cytidin und erklärt: „Indem die falsche Base eingebaut wird, kommen diese Basenpaarungen durcheinander. Diese fehlerhaften Basenpaarungen entsprechen RNA-Defekten.“ Molnupiravir führt also zu fehlerhaften RNA-Replikationen und somit zu einer Kumulation an RNA-Defekten – es ist in der Folge keine weitere Virusvermehrung mehr möglich. Lagevrio® wird ebenso über fünf Tage eingenommen, als sehr häufige Nebenwirkungen werden Durchfall, Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen beobachtet. Schwangerschaft stellt eine Kontraindikation dar. Das Interaktionspotenzial ist gering. Eine durchgeführte Studie mit 1.433 Patient:innen mit Risiko für einen schweren Verlauf (über 60 Jahre, nicht geimpft, symptomatisch, Delta-Variante) zeigte eine relative Risikoreduktion von etwa 30 % für die primären Endpunkte Hospitalisierung oder Tod.Hier zog Spreitzer einen Vergleich betreffend den Wirkungsmechanismus mit dem schon länger zugelassenen Wirkstoff Remdesivir.
Für hospitalisierte Patient:innen ab 12 Jahren mit Pneumonie und Sauerstofftherapie oder solche ohne Sauerstofftherapie, jedoch mit Risiko für einen schweren Verlauf, besteht die Möglichkeit einer i. v. Therapie mit Veklury®. Der Wirkstoff Remdesivir liegt, damit er an seinen Bestimmungsort gelangen kann, als Prodrug vor. Der dann freigesetzte aktive Wirkstoff imitiert ebenfalls als „falsche Base“ Adenosin und bewirkt durch direkte Hemmung der Virus-RNA-Polymerase einen Kettenabbruch bei der RNA-Replikation. Der Mechanismus ist also geringfügig anders als bei Lagevrio®.
Evusheld® besteht aus zwei monoklonalen Antikörpern, Tixagevimab und Cilgavimab, die laut Spreitzer bemerkenswert langlebig sind – die Wirkdauer beträgt nämlich mindestens sechs Monate. Spreitzer: „Der Wirkmechanismus ist folgendermaßen: Die beiden Antikörper binden an das virale Spike-Protein und nehmen in der Folge dem Virus die Möglichkeit, an den ACE2-Rezeptor der Wirtszelle anzudocken.“Evusheld® ist für die Präexpositionsprophylaxe zugelassen und für Menschen bestimmt, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht geimpft werden können oder deren Immunsystem nicht oder unzureichend auf eine Impfung angesprochen hat.