Der Präsident der HMPPA, Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Hermann Stuppner, erläuterte zu Beginn der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung der Arzneipflanze 2023 die wesentlichen Kriterien für die Wahl: So wachse die Pflanze auch in Österreich, außerdem gäbe es eine Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen und neuen Untersuchungen, die z. T. in Österreich durchgeführt wurden – somit sei der regionale Bezug jedenfalls gegeben. Auch die wirtschaftliche Bedeutung ist vorhanden: Am Markt befinden sich sowohl Nahrungsergänzungsmittel als auch registrierte traditionelle pflanzliche Arzneimittel. Last but not least gelinge mittlerweile auch die Kultivierung von Rhodiola rosea in relevantem Umfang. Darüber hinaus könnten Post-COVID-Symptome ein mögliches neues Anwendungsgebiet für entsprechende Präparate darstellen. Aber der Reihe nach:
Die Rosenwurz (Rhodiola rosea L., syn. Sedum roseum Scop.) hat ihren Namen durch den rosenartigen Geruch des Wurzelstocks erhalten, welcher gleichzeitig die Arzneidroge darstellt. Die optisch nicht besonders spektakuläre Pflanze gehört zur Familie der Dickblattgewächse (Crassulaceae) und wächst verbreitet in den Gebirgszügen der nördlichen Hemisphäre und in den arktischen Gebieten Europas, Asiens und Nordamerikas. Generell gedeiht die robuste, winterharte und anspruchslose Pflanze gern in rauen Lagen und auf mageren Standorten, so etwa in Felsspalten, am Rand von Hochmooren, auf Urgestein, aber auch im Kalkgebirge. In Österreich findet man Rosenwurz vor allem in den Zentralalpen an und oberhalb der Baumgrenze. Generell zeichnet Rhodiola eine gewisse Variabilität in ihren Erscheinungsformen aus, wie em. o. Univ.-Prof. DI Dr. Chlodwig Franz, Vizepräsident der HMPPA, Abt. Funktionelle Pflanzenstoffe, VetMeduni Wien, in seinen Erläuterungen zur Botanik und Kultivierung von Rosenwurz festhält.
Rhodiola wird bereits seit der Antike arzneilich verwendet, in den letzten Jahrhunderten vorwiegend volksmedizinisch als „Stärkungsmittel“ in Ostasien, Russland und Skandinavien aus Wildsammlung. Seit etwa zwei Jahrzehnten erhält die Pflanze verstärkt Aufmerksamkeit, und es wurden eine Reihe von Untersuchungen bzgl. Pflanzengenetik, Inhaltsstoffen und Kultivierung vorgenommen. So gibt es mittlerweile erfolgreiche Züchtungs- und Anbauversuche gewisser Unterarten, z. B. in Skandinavien, Osteuropa, Oberitalien und in der Schweiz. Die wirtschaftliche Kulturdauer beträgt dabei 4–6 Jahre.
Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Rudolf Bauer, Vizepräsident der HMPPA sowie Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Graz, berichtet, dass in den letzten Jahren eine Monografie „Rhodiola root and rhizome“ für das Europäische Arzneibuch mit maßgeblicher österreichischer Beteiligung erarbeitet wurde (derzeit noch nicht gültig). Als qualitätsbestimmende Markersubstanzen werden Salidrosid (ein Phenylethanoid) und Rosavin (ein Phenylpropanoid) dienen; daneben enthält der Wurzelstock Flavonoide, Proanthocyanidine, Monoterpene usw. Für die Wirkung sind v. a. die Phenylethanoide und Phenylpropanoide mit verantwortlich, vermutlich auch die Proanthocyanidine. Typisch für den echten Rosenwurz ist ein Verhältnis von Rosavin : Salidrosid von 3 : 1.
Rosenwurz zählt, ähnlich wie der Ginseng, zu den sogenannten „adaptogenen“ Arzneidrogen, welche eine normalisierende Wirkung auf den Organismus ausüben und die Widerstandsfähigkeit gegenüber physikalischen, chemischen und biologischen Noxen erhöhen sollen. Dieses adaptogene Konzept geht auf Wissenschaftler aus der ehemaligen Sowjetunion zurück, neuerdings wird auch bei der EMA darüber diskutiert: Die adaptogene Wirkung ist ja mehr oder minder die Summe von verschiedenen einzelnen Effekten und ist daher pharmakologisch schwer zu greifen. Pharmakologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Rosenwurzextrakt den Stresshormonspiegel senkt und den Energiestoffwechsel stimuliert. Es wurde kürzlich auch ein neuroprotektiver Effekt nachgewiesen. Rosenwurzextrakt wirkte bei humanen Neuroblastomzellen und murinen Hippocampuszellen einer Kortikosteroid-induzierten Dysregulation entgegen, förderte das Neuritenwachstum, induzierte einen Anstieg des Nervenwachstumsfaktors BDNF, und fing Sauerstoffradikale ab. Auch weitere entzündungshemmende Mechanismen bei Nervenzellen wurden kürzlich nachgewiesen. An der Universität Wien wurden Rhodiola-Inhaltsstoffe mit Hemmwirkung auf Influenzaviren isoliert: So soll eine tanninreiche Fraktion des Extraktes mit der viralen Hülle interagieren und die virale Neuraminidase hemmen. Die Universität Graz wiederum war an Untersuchungen beteiligt, die eine Hemmwirkung gewisser Auszugsfraktionen gegenüber Campylobacter jejuni gefunden haben.
Große Bedeutung wird dem adaptogenen Konzept bei der Resilienz gegenüber Stresssituationen oder auch in der Behandlung und Prophylaxe von viralen Atemwegsinfekten zugemessen. Die Rosenwurz könnte mit ihrem gesamten Wirkprofil auch für Post-COVID-Patient:innen interessant sein.
Zubereitungen aus Rosenwurzwurzelstock werden von der EMA/HPMC als traditionelles pflanzliches Arzneimittel zur Anwendung zur vorübergehenden Linderung von Stresssymptomen wie Erschöpfung und Schwächegefühl eingestuft.
Stress ist eine physiologische Reaktion auf Bedrohung oder Druck und kann sich in physischen Symptomen der Erschöpfung bzw. des Energieverlustes oder psychologisch z. B. in Form von Reizbarkeit oder Anspannung zeigen. Unbehandelt kann chronischer Stress zu einer Burn-Out-Risikokonstellation werden. Behandlung sowie präventive Maßnahmen sind wichtig und notwendig. Prof. Dr. med. Ion-George Anghelescu, Mental Health Institute Berlin, erläuterte, dass gegenwärtige medikamentöse Behandlungsstrategien von Stresssymptomen Lücken aufweisen, da diese meist nur auf psychologische oder physische Stresssymptome abzielen. Eine ideale pharmakologische Therapie sollte jedoch möglichst eine Wirkung auf alle Stresssymptome haben und zudem ein gutes Nutzen-Risiko-Profil aufweisen.
Rosenwurzextrakt kann die Entstehung von chronischem Stress sowie daraus resultierenden Komplikationen vermeiden helfen: Er beeinflusst die Ausschüttung von Stresshormonen und hat in Tierstudien einen positiven Einfluss auf mitochondriale zelluläre Strukturen gezeigt. Persistierender Stress kann die ATP-Synthese intrazellulär durch eine Aktivierung verschiedener Enzyme reduzieren, Rosenwurz vermag diese Prozesse zu inhibieren. Darüber hinaus können Inhaltsstoffe der Rosenwurz den negativen Feedbackmechanismus von Cortisol im Gehirn unterstützen und auf diese Weise den Cortisolspiegel im Blut senken.
Prof. Anghelescu berichtet von offenen Studien, in denen Rhodiola rosea gewisse Symptome wie Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Irritabilität und Angst sowie somatische Symptome binnen weniger Tage zu verbessern vermochte. Er sieht Rhodiola-rosea-Extrakt am Anfang der Behandlungskette bei stressassoziierten Beschwerden und Erschöpfungssymptomen oder bei Vitalitätsmangel. Kombinationsbehandlungen mit synthetischen Wirkstoffen wurden noch unzureichend untersucht. Prinzipiell hält Prof. Anghelescu sie aber für möglich, insbesondere in Kombination mit sedierenden Komponenten am Abend. Vorsichtig solle man aber in Kombination mit eher stimulierend wirkenden Substanzen (wie etwa Bupropion) sein.