Ein „Leuchtturmprojekt“, das eine „Patientenmilliarde“, Einsparungen bei Funktionären und ein „modernes, effizientes und bürgernahes System“ bringt. Mit diesen Superlativen verkündeten Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Heinz-Christian Strache, Sozialministerin Mag. Beate Hartinger-Klein (beide FPÖ) und ÖVP-Klubobmann August Wöginger die Reform der Sozialversicherungen. Statt 21 soll es künftig nur noch fünf Sozialversicherungsträger geben. Der Hauptverband wird zu einem Dachverband verschlankt, die Arbeitgeber bekommen mehr Gewicht und die Kassenchefs rotieren künftig.
Konkret werden die neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) fusioniert. Zudem entsteht eine gemeinsame Versicherung für Beamte, Eisenbahn und Bergbau (BVAEB), eine für Unternehmer und Bauern (SVS). Die Betriebskrankenkassen bekommen die Möglichkeit, in die ÖGK hineinzuoptieren. Andernfalls sind sie gesetzlich als private Wohlfahrtseinrichtungen zu etablieren. Die Versicherungsanstalt des österreichischen Notariates wird in eine eigenständige berufsständische Versorgungseinrichtung übergeführt. Dazu kommen die Pensionsversicherung (PV) und die nun doch am Leben bleibende Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA). Die Kosten der Fusion blieben offen, stemmen müssen sie jedenfalls die Kassen selbst.
Kurz zeigte sich hoch zufrieden und sprach von der Umsetzung eines seit den 1960er-Jahren anstehenden Vorhabens. Es werde nun gleiche Leistung für gleiche Beiträge und eine Einsparung von einer Milliarde Euro bis 2023 zugunsten der Patienten geben. Die Selbstverwaltung der Kassen bleibe hingegen erhalten, wurde betont, wobei in die Machtverteilung der Gremien eingegriffen wird und die Arbeitgeber im Verwaltungsrat von ÖGK und Pensionsversicherung künftig gleich stark sein werden wie die Arbeitnehmer. Neu ist auch, dass in ÖGK und Pensionsversicherung künftig zur Hälfte der Zeit auch ein Arbeitgebervertreter Vorsitzender sein wird und im deutlich abgespeckten Dachverband der Chefposten unter den fünf Trägern rotiert.
Ziel sei, die Entscheidungsstrukturen gesund zu gestalten und eine Reform für die Patienten und die Gesundheitsberufe zu machen, betonte Hartinger-Klein. „Wir wollen die Leistungen harmonisieren und gleichzeitig die Ärzte unterstützen, mehr Zeit für die Patienten zu haben.“ Die ÖGK werde den Auftrag erhalten, gemeinsam mit der Ärztekammer die Leistungen zu harmonisieren. Hartinger-Klein: „Ich möchte den Ärzten die Möglichkeit geben, das tun zu können, wofür sie auch ausgebildet worden sind.“ Die Ministerin betonte allerdings auch, dass die „längst fällige“ Strukturreform erst der Beginn einer Reform des Gesundheitswesens sei. Weitere Schritte müssten folgen.
Für Unklarheit sorgte nach der Vorstellung der Pläne das Volumen der tatsächlichen Einsparungen. Im Begutachtungsentwurf sieht die Regierung nur ein Potenzial von rund 350 Millionen. Man geht aber offenbar davon aus, dass man indirekt noch auf anderen Gebieten Kosten reduzieren kann. Das Sozialministerium argumentierte, dass man im Begutachtungsverfahren nur Zahlen des Bundes angeben könne. Für die Selbstverwaltung könne man keine Angaben machen. In der Ausgabenschätzung des Begutachtungsentwurfs ist von 33 Millionen Einsparungen für das Jahr die Rede. Für 2024 wird dann von 68 Millionen ausgegangen, im Jahr darauf von 106 Millionen und schließlich 2026 von 144 Millionen. Die erhofften Einsparungen sollen sich vor allem durch Synergieeffekte durch die Reduktion von 21 auf fünf Träger ergeben. Die Zahl der Funktionäre werde um drei Viertel reduziert, für die 29.000 Beschäftigten und 9.000 medizinischen und gesundheitlichen Berufe innerhalb der Kassen solle es eine Beschäftigungsgarantie geben, versicherte die Regierung. Einsparungen soll es geben, weil natürliche Abgänge möglichst nicht nachbesetzt werden.
„Diese Reform stellt einerseits das hohe Leistungsniveau für alle Versicherten langfristig sicher und steigert die Effizienz. Andererseits wird die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft durch die vorgesehene Lohnnebenkostensenkung erhöht. Gleichzeitig kann auf regionale Besonderheiten wie beispielsweise Zuschläge zu Ärztegesamtverträgen Bedacht genommen werden.“
Mag. Karlheinz Kopf,
Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ)
„Es ist sehr bedauerlich, dass man einen ausgewiesenen Experten und Kenner des Gesundheitswesens wie Alexander Biach nicht mit einer Führungsaufgabe betraut. Die Finanzierung der Lehrpraxen, die Umsetzung der E-Medikation waren zwei Beispiele für jahrelang verzögerte Projekte, die unter der Ägide von Biach schnell und gemeinsam verwirklicht werden konnten.“
Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres,
Präsident Österreichische Ärztekammer
„Die Bundesregierung leitet dringend notwendige Strukturmaßnahmen in der Sozialversicherung in die Wege. Das Sozialversicherungssystem kommt auch mit weniger als einem Viertel an Funktionären aus. Das reduziert die Komplexität in den Prozessen deutlich.“
Mag. Georg Kapsch,
Präsident Industriellenvereinigung
„Obwohl Kanzler Sebastian Kurz und Sozialministerin Beate Hartinger-Klein die Zahlen kennen, ist Bevölkerung und Journalisten marketinggerecht eine Milliarde verkauft worden. Würde ein Mitarbeiter in seiner Firma den Chef so am Schmäh führen, wäre er seinen Job los.“
Norbert Loacker,
NEOS-Sozialsprecher
„Das ist die größte Enteignung in der Geschichte Österreichs. Die wahren Eigentümer – 8,7 Millionen Versicherte – sollen damit ausgeschaltet werden. Wie man das Einsparungsziel von einer Milliarde Euro erreichen will, ist bisher nicht durchgedrungen.“
Johann Kalliauer,
Präsident Arbeiterkammer Oberösterreich
„Künftig haben Großkonzerne das Sagen in den Krankenkassen. Was heißt das für die Patienten: Selbstbehalte bei Arztbesuchen, bei Spitalsaufenthalten, weniger Medikamente, die die Krankenkasse zahlt, oder weniger Kassenärzte. Das ist der Startschuss für eine schleichende Privatisierung unseres solidarischen Gesundheitssystems.“
Dr. Pamela Rendi-Wagner,
SPÖ-Gesundheitssprecherin
„Der Regierung geht es offenbar gar nicht ums Sparen, sondern um politische Kontrolle.“
Albert Maringer,
Obmann der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (OÖGKK)
„Das Gesundheitssystem und die Sozialversicherungen werden an die Wand gefahren. Das führt zu einer drittklassigen Medizin für sieben Millionen Versicherte. Öffentlich Bedienstete, Selbstständige und Unternehmer behalten ihre eigenen Versicherungen mit besseren Leistungen, während der dritten und größten Gruppe der Arbeitnehmer, Pensionisten und deren Angehörigen das Geld entzogen wird.“
Wolfgang Katzian,
ÖGB-Präsident