ARZT & PRAXIS: Welche Neurotransmittersysteme spielen bei der Entstehung von Depressionen eine Rolle?
em. o. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Kasper: Bei den Depressionen spielen traditionsgemäß das serotonerge, das noradrenerge und in sehr viel geringerem Ausmaß des dopaminerge System eine Rolle. In letzter Zeit sind auch das glutamaterge sowie das GABAerge System sehr weit in das Interesse der Forschung gerückt. Bis in die 1970er- bzw. 1980er-Jahre wurde auf diese Systeme kein größeres Augenmerk gelegt. Das änderte sich mit der Einführung der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), die etwa 80 % der in Österreich an Depression leidenden Patient:innen als Medikation erhalten.
Immer dann, wenn ein Medikament gut wirkt, rückt der Wirkmechanismus in den Fokus. Als ich in der Psychiatrie tätig wurde, etwa Mitte der 1970er-Jahre, galt das Interesse der Forschung noch nicht dem serotonergen, sondern dem noradrenergen System, obwohl noch keine geeigneten Medikamente zur Verfügung standen. Der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Reboxetin zeigt allerdings nur bei einem sehr kleinen Anteil der depressiven Erkrankungen eine gute Wirksamkeit.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist durch Einführung der Ketamin-Therapie wiederum das glutamaterge System als Neurotransmittersystem interessanter geworden. Seine Wirkung führte zur Zulassung von Esketamin bei therapieresistenter Depression in den USA und der EU.
Auf das GABAerge System wirken die Benzodiazepine. In Bezug auf die damit verbundene berechtigte Sorge vor einer Abhängigkeit müssen wir festhalten, dass es unterschiedliche Benzodiazepine gibt: So hat das 2020 in den USA für die Postpartum-Depression zugelassene Brexanolon einen anderen Angriffspunkt, als wir ihn von den klassischen Benzodiazepinen kennen. Es wirkt auf sog. extrasynaptische GABA-Rezeptoren und wird i.v. verabreicht. Als orale Alternative steht – ebenfalls nur in den USA – Zuranolon seit 2023 zur Verfügung.
Es wurden in Bezug auf die Serotoninhypothese in den letzten Jahren Zweifel angemeldet …
Die Serotoninhypothese wurde von der englischen Psychiaterin Joanna Moncrieff in einer Nature-Publikation infrage gestellt. Sie führte ein sogenanntes Umbrella-Review durch. Dabei wird über Metaanalysen noch einmal eine Metaanalyse drübergesetzt. Ihr Fazit war, dass die Serotoninhypothese zu verwerfen wäre. Diese Arbeit ist, salopp gesagt, ein statistischer Schnickschnack. Als Nicht-Statistiker versteht man diese Verfahren kaum, und insgesamt waren die Schlüsse, die aus diesem Umbrella-Review gezogen wurden, nicht zulässig. Verschiedene Forscher:innen, unter anderem auch wir, haben daraufhin die verwendete Methode hinterfragt und Kommentare publiziert, wobei folgender Satz postuliert wurde: „A leaky Umbrella is of no help“ – wenn der Regenschirm Löcher hat, dann hilft er nicht weiter.
Dass die vom ebenfalls aus England stammenden Alec Coppen postulierte Serotoninhypothese noch gilt, steht außer Frage, wenngleich nicht in dem Sinn, dass ein Serotoninmangel den einzigen Mechanismus der Depression darstellt.
Ich selbst habe in diesem Zusammenhang seit den 1970er-Jahren Studien durchgeführt, und ich habe keinen Zweifel, dass bei den klinisch relevanten Depressionen das serotonerge System gestört ist. Es ist nicht die Ursache der Depression, sondern es ist eher die Eintrittspforte für weitere pathologische Mechanismen. Die Rolle des serotonergen Systems zeigt sich indirekt an der Wirkung der SSRI. Neben dieser klinischen Beobachtung stützen aber auch weitere diagnostische Verfahren die Serotoninhypothese.
In Wien konnten wir z. B. mithilfe der Positronenemissionstomografie darstellen, dass die Aktivität des Serotonintransporters bei depressiven Patient:innen reduziert ist und diese Reduktion auch im Zusammenhang mit dem Ansprechen auf eine serotonerge Substanz steht.
In welchem Ausmaß tragen genetische Faktoren zur Entwicklung von Depressionen bei?
Prinzipiell muss man sagen, dass bei depressiven Erkrankungen verschiedene Ursachen wie Stress, genetische Vulnerabilität oder Traumata des Gehirns, wie z. B. auch virale Infektionen etwa durch COVID, eine Störung des Hirnstoffwechsels hervorrufen können. Früher hat man sich auf neuroendokrine Störungen konzentriert, woraus auch die Serotoninhypothese entstanden ist. Dann rückte die Immundysregulation in den Vordergrund. Heutzutage spricht man auch sehr häufig von der Dysregulation zwischen verschiedenen Regionen im Gehirn, die mit dem wunderbaren Begriff „Default Mode Network“ umschrieben wird, aber es existieren natürlich auch weitere komplizierte Mechanismen auf zellulärer bzw. subzellulärer Ebene. Dazu zählen die Gentranskription und der neurotrophische Support.
Die Frage ist, was das für die Praxis bedeutet. Bei 6–8 % der depressiven Patient:innen findet man genetisch auffällige Charakteristika, aber das entspricht auch der Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung. Anschaulicher ist die Zwillingsforschung. Wenn ein identischer Zwilling eine Depression aufweist, beträgt die diesbezügliche Wahrscheinlichkeit für den anderen 40 %. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eines depressiven Elternteils auch erkrankt, liegt bei unter 8 % und damit wieder im Bereich der Normalbevölkerung.
Damit möchte ich der Genetik nicht die Wichtigkeit absprechen, aber man sieht daran, wie schwierig die Beurteilung der Zusammenhänge von genetischen Aberrationen und psychischen Erkrankungen im Allgemeinen ist. Eine seltene Ausnahme bildet die auf einem Gendefekt beruhende Chorea Huntington. Wir untersuchen aktuell in einer europäischen Verbundstudie das gesamte Genom von 196 Patient:innen und hoffen, dass dadurch festgestellt werden kann, welche genetischen Konstellationen eine Rolle spielen. Aber sicherlich wird es nicht so sein, dass man ein einziges Gen oder einen einzigen Polymorphismus finden wird, der für die Depression verantwortlich ist.
Neuere Forschungen deuten auf einen Zusammenhang zwischen inflammatorischen Prozessen und der Entstehung von Depressionen hin. Welche klinischen Konsequenzen könnten sich daraus ergeben?
Der Zusammenhang zwischen Inflammation und Depression wird seit sehr langer Zeit diskutiert. Auch ich habe in meiner Habilitationsschrift Ende der 1980er-Jahre Interleukine bei depressiven Patient:innen untersucht und konnte Auffälligkeiten feststellen, die sich auch beeinflussen ließen: Wir untersuchten Patient:innen mit einer Herbst-Winter-Depression, bei denen eine Therapie mit hellem, weißem Licht zu einer charakteristischen Veränderung der Interleukin-Expression führte. Es wurden in der Vergangenheit auch Medikamente untersucht, die auf den entzündlichen Prozess eingehen, aber keines dieser Medikamente hat einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Das heißt, klinische Konsequenzen ergeben sich daraus zumindest derzeit nicht.
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Stressreaktionen und der Entwicklung depressiver Störungen?
Man muss sich das so vorstellen, dass das Gehirn eine gewisse Kapazität hat, um mit Umwelteinflüssen zurechtzukommen. Je früher der Stress im Laufe eines Lebens beginnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das dem Stress ausgesetzte Gehirn Schaden nimmt – gerade in ganz wichtigen Entwicklungsschritten, wie zwischen dem 4. und dem 6. Lebensjahr oder in der Pubertät. Da sollte man das Gehirn möglichst schonend behandeln. Jemand, der eine sehr gute Entwicklung durchgemacht und sozusagen ein sehr robustes Gehirn hat, kann im späteren Leben eine Stressreaktion besser konstruktiv verarbeiten.
Andere tun sich mit sogenannten Life Events wie dem Verlust des Partners oder auch nur Umzug in eine andere Wohnumgebung oder Veränderung im Berufsleben schwerer. In diesem Zusammenhang sind auch stressinduzierte Erkrankungen zu nennen, die jetzt auch im ICD-11 aufgegriffen wurden, die dann allerdings vorwiegend zu angstähnlichen Erscheinungsbildern führen.
Verlusterlebnisse und Veränderungen der Wohn- oder Berufssituation sind aber an und für sich ubiquitäre Stresssituationen. Sigmund Freud hat das als das „allgemeine Elend“ zusammengefasst, mit dem wir uns alle gemeinsam auseinanderzusetzen haben. Wenn man depressive Patient:innen aber fragt, ob eine akute Belastung vorliegt, wird das meistens verneint. Bei dieser Patientengruppe spielen solche Lebensereignisse eher eine untergeordnete Rolle.
Welche Rolle spielen Struktur und Funktion spezifischer Gehirnregionen wie des präfrontalen Kortex oder der Amygdala bei der Entstehung und Behandlung von Depressionen?
In unserer Forschung hat sich in der funktionellen Magnetresonanz- bzw. in der Positronenemissionstomografie gezeigt, dass der präfrontale Kortex bei der Depression eine zentrale Struktur ist und mit anderen hypothalamischen Gehirnregionen nicht in dem Ausmaß kommuniziert, wie es sein sollte. Die Amygdala ist eher für die Verarbeitung von Angst zuständig und spielt bei der Depression eine untergeordnete Rolle.
Wie wirkt die tiefe Hirnstimulation bei Depressionen und bestehen dabei Zusammenhänge zur Wirkung der Elektrokonvulsionstherapie?
Die tiefe Hirnstimulation wird in Österreich bei Depressionen noch nicht angewendet. Sie wird allerdings an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie in Kooperation mit der neurochirurgischen Klinik bei sehr schweren Zwangserkrankungen oder auch bei der Gillesde-la-Tourette-Erkrankung durchgeführt. Bei der Depression wird dieses Verfahren insbesondere von amerikanischen Kolleg:innen angewandt, aber es gibt auch Zentren in Belgien und in Deutschland, z. B. in Freiburg, die hier eine Expertise aufweisen.
Dabei ist noch nicht so ganz klar, welche Hirnareale stimuliert werden sollen. Das kann sich von Forschungsgruppe zu Forschungsgruppe unterscheiden. Jedenfalls ist diese Methode bei sehr schwer therapierefraktären Patient:innen eine Behandlungsmöglichkeit. Es wird meistens gefordert, dass die Patient:innen im Vorfeld auf mehrere pharmakologische sowie psychologische Therapieverfahren und auch auf die Elektrokrampftherapie nicht angesprochen haben.
Insgesamt hat man bei diesen Patient:innen mit der tiefen Hirnstimulation dann noch recht günstige Erfolge, wobei die Beurteilung durch die sehr geringen Fallzahlen schwierig ist. Aber es ist eine Methode, die man sicherlich in Zukunft berücksichtigen sollte. Natürlich haftet der tiefen Hirnstimulation noch der Schrecken der Gehirnoperationen der Vergangenheit an, allerdings erfolgt die Platzierung computergesteuert und somit sehr präzise. Zudem ist es ja auch keine irreversible Therapiemöglichkeit, sondern eine Elektrode, die in bestimmten Hirnbezirken ein Signal setzt, das die Erregungsleitung ähnlich einem Herzschrittmacher weitergibt.
Die Elektrokonvulsionstherapie ist nach wie vor die stärkste antidepressive Therapie, die wir anzubieten haben, wurde aber durch die Laienpresse völlig falsch dargestellt. Bei schwer depressiven, wahnhaft depressiven oder psychotisch depressiven Patient:innen, die auch suizidal sind, ist es eine äußerst wirksame Behandlungsmethode. In der Praxis werden unter konstanten Bedingungen zweimal pro Woche eine Hirnhälfte oder beide Hirnhälften stimuliert.
Von zentraler Bedeutung ist dabei eine enge Kooperation zwischen Psychiatrie und Anästhesie und dass diese Methode Krankenhäusern mit entsprechender Expertise vorbehalten ist. In früheren Zeiten, wie ich es in meiner Ausbildungszeit an der Universität Heidelberg erlebt habe, ist es vorgekommen, dass unkoordiniert und unstandardisiert anästhesiert und nicht ausreichend muskelrelaxiert wurde, sodass es auch zu vermeidbaren Komplikationen wie Muskeleinrissen kam. Das ist alles Geschichte. Das Einzige, das heute noch vorkommt, ist eine passagere kognitive Einschränkung im Sinne von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen.
Was bleibt noch zum Themenkomplex „Biologie der Depression“ zu sagen?
Vielleicht, dass die Pharmakotherapie eine ganz wichtige Form der Psychotherapie ist, auch und gerade bei der Depression. Die Depression zählt zu den häufigsten Erkrankungen, und sie kann jeden treffen. Sie ist eine reale medizinische Erkrankung, die genauso wenig infrage zu stellen ist wie die arterielle Hypertonie und der Diabetes mellitus. Es handelt sich um keine Lebenseinstellung und kein:e Patient:in ist schuld, daran zu erkranken.
Zudem ist die Depression in der Regel gut therapierbar. Bei Antidepressiva liegt die „Number needed to treat“ bei einem vorzeigbaren, guten Wert von 6.
Ich lasse diese Fakten gerne in das Patientengespräch einfließen, denn sehr häufig wird bei Betroffenen an psychosozialen Variablen sozusagen herumgebastelt und die medikamentöse Therapie wird mitunter hintangestellt. Ich möchte aber bewusst auch nicht gegen die Psychotherapie sprechen. Aber wahrscheinlich brauchen nicht mehr als 10–20 % der depressiven Patient:innen eine spezifische Psychotherapie neben der ärztlichen Psychotherapie. Dass man den Patient:innen die Art und Natur der Erkrankung erklärt und sie einer Psychotherapie im Sinne einer supportiven Therapie zuführt, genauso, wie man es bei einem orthopädischen oder bei einem anderen Leiden macht, ist in etwa 80 % der Fälle mit hoher Wahrscheinlichkeit das Zielführende.
Vielen Dank für das Gespräch!