Univ.-Prof. Dr. Wilfried Ilias: Ein Gutachten wird immer dann benötigt, wenn vor Gericht der Zustand des zu Begutachtenden strittig ist. Das kann das Sozialrecht betreffen, z. B. bei Arbeitsunfähigkeit, oder es kann um einen zivilrechtlichen Aspekt wie nach einem Autounfall oder einem ärztlichen Behandlungsfehler gehen, bei dem Ansprüche auf Schmerzengeld geltend gemacht werden. Es kann aber auch ein wirtschaftsrechtlicher Fall vorliegen, wie z. B. bei gesundheitlichen Folgen durch Anwendung eines Produktes. So hatte ich einmal einen Fall zu begutachten, bei dem es zu einer Laugenverätzung durch ein Fugendichtungsmittel nach Hautkontakt gekommen ist.
Den letzten Anwendungsbereich bildet das Strafrecht.
In allen Fällen hat das Gericht die Möglichkeit, ein Gutachten aus dem entsprechenden Fachbereich einzuholen.
Im Fall der Schmerzmedizin ist das klarerweise jemand, der mit der Schmerztherapie vertraut ist. Dazu zählen Ärzte mit Schmerzdiplom aus dem Bereich der Anästhesie, der Neurologie oder der Unfallchirurgie. Neben dem Schmerzdiplom der Ärztekammer gibt es auch einen Master of Science, der an der Donau-Universität Krems erworben werden kann.
Grundsätzlich kann jeder Arzt ein Gutachten erstellen, aber – und das ist das Wesentliche – wenn ich ein gerichtlich zertifizierter und damit ein vom Gericht zu bestellender Gutachter sein möchte, dann ist eine entsprechende Gutachter-Prüfung zu absolvieren, die von einem Juristen und zwei medizinischen Gutachtern aus dem entsprechenden Fachbereich abzunehmen ist. Die erteilte Zertifizierung muss in weiterer Folge alle fünf Jahre erneuert werden.
Im Strafrecht gibt es zusätzlich den Sachkundigen, der als Privatgutachter vor Gericht genauso behandelt werden muss wie ein gerichtlich bestellter Gutachter – mit der Konsequenz, dass er befragt werden kann, selbst Fragen stellen kann und sein Gutachten berücksichtigt werden muss. Bei zivil- und sozialrechtlichen Verfahren obliegt es hingegen dem Gericht, zu entscheiden, ob das Gutachten des Privatgutachters in den jeweiligen Akt aufgenommen wird oder nicht.
Es ist durchaus nicht unüblich, dass primär Gutachter aus mehreren Fachbereichen bestellt werden oder dass ein beauftragter Gutachter zur umfassenden Beurteilung der Fragestellung eine weitere Begutachtung empfiehlt. Dieser Empfehlung kann das Gericht dann folgen.
Die zentrale Fragestellung ist: Worunter leidet der Patient und in welchem Ausmaß? Inwieweit beeinträchtigt ihn das bei welcher Tätigkeit und wie wird sich sein Gesundheitszustand voraussichtlich entwickeln?
Daneben bzw. als Teil davon gilt es spezielle Fragestellungen zu analysieren. Beispielsweise: Kann der Kläger halbtags oder den ganzen Tag arbeiten? Kann er 5 oder 10 Kilo heben, wie oft? Kann er über/unter Tischhöhe arbeiten? Kann er auf Leitern steigen? Welche Rolle spielen dabei Kälte oder Nässe? Wie weit darf der Anfahrtsweg sein und ist die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels zumutbar bzw. möglich?
Es geht letztlich darum, die Beurteilung so niederzuschreiben, dass ein anderer (die in einen Streitfall eingebundenen Personen und somit zumeist medizinische Laien) – auch ein medizinischer Laie – den medizinischen Zustand des Untersuchten einordnen und nachvollziehen kann.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Prognose. Kann es sein, dass sich ein Zustand bessert (wenn ja, wie sehr), gleich bleibt oder gar verschlechtert; das ist oft ad hoc nicht zu beurteilen. Es kann daher die Gültigkeit des Gutachtens durchaus auf eine gewisse Zeitspanne festgelegt werden, um danach erneut den Zustand zu evaluieren.
Nun, dann sind die Nebenwirkungen der Medikation umso wichtiger. Bei einem NSAR stellt sich etwa die Frage, wie lange es eingenommen werden kann, bevor Nierenschäden, Magenulzera oder Thrombosen auftreten, bzw. ob die längerfristige Behandlung überhaupt zumutbar ist. Um eine geeignete Prognose abzugeben, müssen deswegen Parameter des Status quo, wie z. B. die Nierenfunktion, festgehalten werden, die mit dem Schmerz per se nichts zu tun haben.
Es gibt insgesamt eine beträchtliche, zunehmende Zahl an Beurteilungsscores. Wenn es um die Wirbelsäule wie beispielsweise beim Rückenschmerz geht, wird der „Oswestry Disability Index“ eingesetzt. Dann gibt es natürlich die Lebensqualitätsscores wie z. B. die „Flanagan Quality of Life Scale“, den weitverbreiteten „Short Form 36“ (SF-36) etc. Darüber hinaus gibt es Scores zur Schmerzchronifizierung. Wichtig ist, dass man die Symptomatik unabhängig von den verwendeten Skalen den bereits von Prof. Wilhelm Holczabek (Gerichtsmediziner, Rektor der Universität Wien 1981–1985, Dekan der Medizinischen Fakultät 1986–1989) formulierten Schmerzqualitäten „leicht“, „mittelstark“ und „stark“ zuordnen kann, denn davon hängt alles Weitere, auch das Schmerzengeld, ab. Trotzdem ist es wichtig, die Grundlage der Bewertung wie die erwähnten Skalen genau zu beschreiben bzw. zu benennen, um eine Vergleichbarkeit für weitere Gutachten zu gewährleisten und das Gutachten möglichst gut abzusichern.
Das ist eine heikle Frage. Es kommt nämlich durchaus vor, dass bei einem Gutachten Literatur zitiert wird, die erst nach dem Ereignis publiziert wurde. Für die korrekte Beurteilung heranzuziehen ist jedenfalls der Wissenstand zum Zeitpunkt des strittigen Ereignisses, wie beispielsweise eine medizinische Behandlung. Ich persönlich erinnere mich an einen Fall, bei dem es um eine tragischerweise nicht durchführbare endotracheale Intubation bei einem Kind gegangen ist. Der bei Gericht vorgetragenen Argumentation, man hätte eine Larynxmaske verwenden können bzw. müssen, war nicht zu folgen, nachdem zu diesem Zeitpunkt Larynxmasken weder für Notfälle zugelassen, noch in Kindergrößen verfügbar waren.
Ein zweiter Punkt ist die Frage, ob publiziertes Wissen in der Ärzteschaft auch bereits allgemein bekannt ist. Denn nur, weil etwas publiziert ist, heißt das noch nicht, dass es als Teil des aktuellen Kenntnisstandes zu werten ist.
Jeder, der untersucht wird, hat ein gewisses – legitimes oder illegitimes – Anliegen. Wenn darüber aufgrund des Gutachtens abschlägig beschieden wird, ist der Untersuchte natürlich nicht froh. Deswegen habe ich mir zur Absicherung ein eigenes Formblatt zurechtgelegt, auf dem vom Untersuchten mit Unterschrift bestätigt wird, wann er in meiner Ordination war und welche Untersuchungen in welchem Zeitraum durchgeführt wurden. Denn oft kommt es vor Gericht vor, dass behauptet wird, dass gar nicht oder nicht im korrekten Ausmaß untersucht worden ist.
Ja, es gibt Krankheiten, für die unsere diagnostischen Untersuchungsmöglichkeiten nicht ausreichen, diese also weder einen beweisenden noch einen widerlegenden Beitrag leisten können. Kann ich mithilfe der apparativen Diagnostik erstellte Befunde mit den klinischen Angaben in Kongruenz bringen, dann habe ich schon gewonnen. Gerade in Grenzfällen wird wohl eher dem Patienten geglaubt werden müssen, wenn alle Befunde für oder aber zumindest nicht gegen seine angegebene Schmerzsymptomatik sprechen.
Es ist kein Grundprinzip der Begutachtung, aber die Aufgabe des Gutachters ist es, zu beweisen, dass jemand ein Beschwerdebild hat oder nicht. Wenn ich diesen Beweis nicht erbringen kann, ist man auf die Aussagen des Patienten angewiesen.
Ganz allgemein dann, wenn gewisse Beschwerden nicht zu dem beschriebenen Krankheitsbild passen. Die Fragestellung ist dann folgende: Benimmt sich der Patient der Krankheit entsprechend? Nimmt er eine Schonhaltung ein? Es ist dabei sehr hilfreich, den Patienten bereits ab dem Betreten des Untersuchungszimmers zu beobachten, z. B. beim An- und Auskleiden, beim Öffnen der Tür etc.
Im Umgang mit Zweifeln versuche ich aber auch zu beurteilen, ob ich unter Umständen befangen bin. Um möglichst vorbehalts- und emotionslos ein Gutachten zu erstellen, hilft oft der zeitliche Abstand und die dadurch abgeschwächte Affektivität.
Herausfordernd ist oft die Berührung mit dem Erbrecht: Oft werden Testamente von Erblassern angefochten, die (Schmerz-)Medikamente einnehmen, die potenziell die Urteilsfähigkeit einschränken. Hier muss man im Nachhinein aus der Aktenlage, logischerweise ohne den Patienten zu kennen, beurteilen, ob und wie sehr die Medikation wirklich auf die Entscheidungsfähigkeit Einfluss nehmen kann. Wenn es sich um Opioide handelt, ist es aufgrund der Toleranzentwicklung sehr wichtig, wie lange die Medikation eingenommen wurde, und natürlich, ob die Einnahme indiziert war, sprich, die Schmerzen entsprechend intensiv waren. Bei einem Patienten mit starken chronischen Schmerzen hat ein Opioid einen weit geringeren Einfluss auf die Vigilanz als bei einem Gesunden.
Das sind vor allem jene im Sozialrecht, bei denen es um die Arbeitsfähigkeit geht. Hier ist der Schweregrad eines chronischen Leidens strittig. Ein gutes Beispiel ist auch der Thalamus-Schmerz, der apparativ nicht nachweisbar ist.
Oft ist es bei Zweifeln sinnvoll, eine zweite Begutachtung durchzuführen. Ist ein Beschwerdebild nur simuliert oder wird es aggraviert, ist es häufig so, dass sich die Symptomatik der Beschwerden deutlich zwischen den beiden Besuchen unterscheidet. Wenn man Zweifel hat, dann soll das auch genau so im Befund wiedergegeben werden – etwa, dass der Schmerzstatus in der angegebenen Intensität aus gutachterlicher Sicht nicht nachvollziehbar ist.
Diese ist sehr wichtig und oft zentraler Anhaltspunkt für die korrekte Beurteilung im Zuge der Gutachtenerstellung. Die Dokumentation von Ärzten, Pflegepersonal oder auch der Physiotherapie aus Ordinationen, Spitälern und auch Rehabilitationseinrichtungen ist insbesondere für die Verlaufsbeurteilung sehr hilfreich. Sehr oft kommen Leute mit sehr fragwürdigen Klagen nur deshalb durch, weil die Dokumentation schlicht unzureichend war.
Jeder Arzt hat seine Erfahrungen und kann diese natürlich einbringen. Wir haben eine Expertise, und die sollten wir der Gesellschaft zur Verfügung stellen, denn wir haben als Ärzte auch einen sozialen Auftrag dem Kollektiv gegenüber.
Natürlich gibt es eine große Ähnlichkeit. Die zusätzliche Kunst des Gutachters ist es, analog zur Kriminaltechnik eine Beweiskette logisch dem Gericht und auch den Laien darzulegen, die dann die Grundlage der Schlussfolgerung darstellt.
Auf jeden Fall! Man wird damit nicht reich, aber man lernt immer etwas dazu und ist mit ganz anderen Dingen konfrontiert, als man sie in der klinischen Praxis sonst erlebt. Und man kann seine Expertise einbringen, mit der man einen Dienst an der Allgemeinheit erfüllt, denn die Gerichte haben wirklich eine Not an Gutachtern.
Als Gutachter weiß man auch, wie man sich vor Gericht benimmt. Das ist praktisch, denn auch als fähiger und gewissenhafter Arzt ist man nicht vor Klagen gefeit.