ARZT & PRAXIS: Im Februar 2022 haben Psychiaterinnen und Psychiater der Klinik Hietzing eine Gefährdungsanzeige aufgrund von Personalmangel und gestiegenen Patientenzahlen eingebracht. Zu Recht?
Dr. Ruth Pöchacker: Ja, denn ohne Personal kann man kein Krankenhaus betreiben. Es fehlen ja nicht nur Ärzte, sondern auch Pflegepersonal. Man kann nicht einfach 20 oder 30 selbst- oder fremdgefährdende Jugendliche ohne ausreichende Betreuung abstellen. Das hat aus therapeutischer Sicht überhaupt keinen Sinn – dann könnte man sie gleich einsperren. Mit der derzeitigen Personalausstattung können die Behandler nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Patienten sicher untergebracht sind. Eine Gefährdungsmeldung bedeutet natürlich auch Selbstschutz und erfüllt die Verpflichtung, den Dienstgeber über die herrschenden Zustände offiziell in Kenntnis zu setzen.
Warum erfolgte die Meldung gerade bzw. erst jetzt?
Die Versorgung hat sich tatsächlich in den letzten Monaten und Jahren gravierend verschlechtert. Die nun erfolgte Gefährdungsmeldung gegenüber dem WiGev (Anm.: Wiener Gesundheitsverbund) ist tatsächlich ein letztes Mittel, also eine Form der Notwehr. Davor wurde von ärztlicher Seite natürlich schon vieles versucht. Leider wurde man nicht gehört und die Verantwortlichen haben gehofft, dass die Ärzte sozusagen „weiterwurschteln“, wie sie es schon in der Vergangenheit gemacht haben. Das wollen die Betreffenden natürlich nicht – niemand will so Medizin machen – und sie können es auch nicht mehr. Jetzt kam es zu weiteren Kündigungen, womit im Sommer 2,5 (im schlechtesten Fall) bis 4 Fachärztinnen bzw. Fachärzte anwesend sein werden, und so kann eine Abteilung nicht funktionieren.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Politik bzw. der Standespolitik in diesem Zusammenhang?
Die Standespolitik hat sich sehr für unser Fach eingesetzt, sowohl die Kammer als auch die Fachgruppe. Es gab unzählige Sitzungen. Dass es so schlimm kommt, wie es jetzt ist, hat trotzdem niemand erwartet. Die Politik hat die Situation einfach falsch eingeschätzt: Über lange Jahre wurde mit Spitalsärzten, um es vorsichtig auszudrücken, nicht sehr freundlich umgegangen und die Leute lassen sich das schlicht nicht mehr gefallen.
Welche Maßnahmen oder Lösungsansätze könnten zu einer Verbesserung der Situation beitragen?
Man muss die Stellen attraktivieren, und dazu müssen die Arbeitsbedingungen besser werden, ebenso die Honorierung. In Hietzing ist das Gegenteil passiert: An der Abteilung gibt es seit Jahren keinen Abteilungsvorstand. Der WiGev hat sämtliche potenzielle Vorstandskandidaten – ich kann das nicht anders nennen – vergrault. Beispielsweise werden bei einem Wechsel von der Klinik oder aus einem Bundesland keine Vordienstzeiten angerechnet und auch Geld ist nun einmal etwas, das eine Stelle attraktiver macht. Ein weiterer problematischer Punkt ist die oft fehlende Möglichkeit, Stunden zu reduzieren – hier mangelt es an Flexibilität. Jetzt sind die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass es fraglich ist, wie lange sich das die wenigen Verbliebenen noch antun werden. Mittlerweile übernehmen sogenannte Legionäre Dienste, die allerdings oft nicht 24 Stunden, sondern auch nur einen Teildienst lang dauern. Die diensthabenden Oberärztinnen und Oberärzte kennen die Patienten zum Teil nicht oder nur sehr schlecht. Obwohl sich das gesamte Team sehr bemüht, eine Versorgung zu gewährleisten, ist das zum jetzigen Zeitpunkt nur eingeschränkt möglich.
Sie betreiben als eine der wenigen eine Ordination mit allen Kassen in Wien. Woher nehmen Sie Ihre Motivation?
Mittlerweile sind wir insgesamt acht Fachärztinnen und Fachärzte mit Kassenvertrag. Zu meiner Motivation: Ich war ursprünglich bzw. bin noch immer praktische Ärztin, dann Kinderärztin geworden, so zur Psychosomatik am Wilhelminenspital gekommen und schlussendlich über diese Stationen Kinderpsychiaterin geworden. Ich arbeite sehr gerne in diesem Bereich und ich bin davon überzeugt, dass unser Klientel, das überwiegend nicht sonderlich betucht ist, das Recht auf eine Kassenversorgung hat. Seit ich mit dem Zusatzfach fertig bin, habe ich mich deshalb darum bemüht, in Wien einen Kassenvertrag zu bekommen. Man muss bedenken: Den ersten kinderpsychiatrischen Kassenvertrag in unserer Hauptstadt haben sechs KollegInnen in Wien bekommen (meine Kollegin Frau Dr. Koschitz und ich in einer Gruppenpraxis) – im Jahr 2015! Insgesamt kann ich sagen, dass ich in meinem Beruf genau richtig bin und die Berufswahl auch nicht bereue.
Wie ist der Ausblick für die Kinderpsychiatrie in Wien?
Im Augenblick ist die Verzweiflung groß, denn das AKH plant, die angedachte Urlaubssperre im Sommer tatsächlich durchzuführen. Dann wird es in Wien möglicherweise keine durchgehende stationäre Versorgung geben. Das ist in meinen Augen ein unhaltbarer Zustand. Wir spüren den Versorgungsengpass in den Ordinationen bereits jetzt und ehrlich gesagt bin ich wie auch meine Kollegen mit meiner Kapazität am Limit. Wenn sich die Situation weiter verschärft, wird man die Versorgung überhaupt nicht mehr aufrechterhalten können.
Im Zusammenhang mit den fehlenden Kapazitäten in den Kassenordinationen wird ja seitens des Gesundheitsministers momentan das Wahlarztsystem stark hinterfragt …
Ich denke, man sollte das Kassensystem hinterfragen. Ohne Wahlärzte könnten wir in Wien die Patienten überhaupt nicht versorgen. Die Wahlärzte in unserem Bereich verrechnen im Allgemeinen so sozial, dass die Patienten nahezu 100 % rückerstattet bekommen. Ein Problem ist natürlich, dass man grundsätzlich in der Lage sein muss, das Honorar vorab auszulegen. Und das können viele Patienten nicht.
Aber auch, wenn Sie heute bei Wahlärzten anrufen, bekommen Sie vor dem Sommer keinen Termin. Es ist also nicht primär eine Frage des Geldes. Der Weg, der seitens des Ministers vorgeschlagen wurde, wird zur Lösung der Versorgungsprobleme nichts beitragen – kein Arzt wird sich zwingen lassen, einen Kassenvertrag zu nehmen.
Und zu den unbesetzten Kassenstellen der Pädiatrie im Allgemeinen ist zu sagen, dass der Honorarkatalog derart unattraktiv ist, dass auch in diesem Bereich niemand eine Kassenpraxis betreiben will.
Welches Fazit würden Sie für die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung ziehen?
Ich bin trotz der dramatischen Situation immer noch guter Hoffnung. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Arbeit in der Kinderpsychiatrie eine wunderbare Aufgabe ist, aber sie muss attraktiver gemacht werden – sowohl für jene, die bereits lange im Fach tätig sind, als auch für jene, die sich in Ausbildung befinden. Die Politik hat das Problem übersehen, vielleicht auch naiverweise geglaubt, dass es schon irgendwie weitergehen wird, oder es liegt auch daran, dass die Kinder schlicht keine Lobby haben.
Abschließend noch eine medizinische Frage: Wann sollte man vonseiten der Pädiatrie bzw. der Allgemeinmedizin hellhörig werden bzw. bei welchen Patienten sollte eine psychiatrische Abklärung angedacht werden?
Also dringend ist es immer dann, wenn eine Lebensmüdigkeit im Raum steht, wenn es um Suizidalität geht, aber das ist ohnehin selbstverständlich – in diesem Beriech wird selten bagatellisiert.
Ein wichtiger Faktor ist natürlich das Körpergewicht. Ich bin immer wieder überrascht, bis zu welchem Untergewicht Institutionen und Eltern zuschauen, ehe die betreffenden Kinder – meistens sind es Mädchen – in die Praxis kommen.
Was umgekehrt problematisch ist und immer wieder vorkommt, ist die Überweisung Richtung Psychiatrie ohne gründliche somatische Abklärung, z. B. bei Bauchschmerzen.
Ansonsten ist es der Behandlung von Erwachsenen ähnlich: Wie lange kann der Hausarzt oder Kinderarzt psychiatrische Krankheiten selbst behandeln bzw. die Lage des Patienten verbessern und wann überweist er?
Grundsätzlich weist sich ohnehin ein Großteil der Kinder „selbst“ zu, und zwar nicht auf dem Papier, sondern durch ihr Verhalten (beispielsweise expansiv oder mutistisch), was schlicht zu einer Überforderung der Eltern oder Betreuer führt.
Vielen Dank für das Gespräch!