ARZT & PRAXIS: Frau Prof. Gyöngyösi, gibt es bereits eine allgemeingültige Definition von „Long COVID“?
Univ.-Prof. Dr. Mariann Pavone-Gyöngyösi: Es existieren 3 Definitionen, die teilweise überlappend sind:
Wie häufig ist Long COVID (Prävalenz) und gibt es besonders betroffene Patientengruppen (Stichwort: Alter, Geschlecht)?
Die Prävalenz liegt zwischen 10 % und 37 % unter jenen genesenen Patienten, bei denen die COVID-Infektion mild oder mäßig schwer verlaufen ist. Die genannten 37 % beruhen auf kürzlich veröffentlichten Daten von 273.618 Patienten, publiziert in PLOS Medicine. Bei Patienten allerdings, die eine schwere COVID-Infektion erlitten haben und im Krankenhaus behandelt werden mussten, liegt diese Zahl zwischen 30 % und 80 %.
Long COVID tritt gehäuft bei jungen Erwachsenen und Patienten im mittleren Alter auf; Kinder, Jugendliche und ältere Patienten sind seltener betroffen. Es gibt auch große Geschlechterunterschiede: So sind Frauen wesentlich häufiger von Long COVID betroffen als Männer, obwohl grundsätzlich mehr Männer an COVID erkranken und auch schwerere Krankheitsverläufe erleiden. Zusätzlich sind gewisse Symptome während der COVID-Infektion, wie Erschöpfung, Kopfschmerz, Kurzatmigkeit, Heiserkeit, Muskelschmerz, Fieber und Gewichtsverlust, Risikofaktoren für die Entwicklung von Long COVID, ebenso wie Übergewicht.
Zur Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen ist allerdings festzuhalten, dass von einer hohen Dunkelziffer für Long COVID ausgegangen wird, da die primäre COVID-19-Infektion bei ihnen oft sehr mild oder asymptomatisch verläuft.
Ist die Prognose bereits während der Erkrankung vorhersagbar?
Es gibt leider noch keine ausreichenden Erfahrungswerte, um definitive Aussagen hinsichtlich der Prognose zu machen. Generell kann man sagen, dass sich die Symptome der meisten, aber nicht aller Patienten mit der Zeit bessern oder sogar komplett verschwinden. Die bisher längsten Fälle von Long COVID reichen bis in den März 2020 zurück. In diesen Fällen können wir bisher nur hoffen, dass Long COVID wie bei anderen postviralen Erkrankungen spontan ausheilt und sich daraus kein Chronic-Fatigue-Syndrom entwickelt.
Die meisten Long-COVID-Patienten, die nach einem Jahr immer noch symptomatisch sind, klagen über Müdigkeit, Atemnot, Schwächegefühl, reduzierte Belastbarkeit und verschiedene neurologische Symptome. Zu den Spätfolgen von COVID-19 laufen aktuell mehrere Studien an der MedUni Wien (MUW). Können Sie die Projekte kurz beschreiben?
Derzeit laufen über 100 Studien an der MUW, die meisten sind Untersuchungen und Beobachtungen während der akuten Infektion. Es werden aber auch epidemiologische Studien und Antikörper-Studien durchgeführt. Weiters gibt es einige Studien zu den Symptomen und Ursachen des Long-COVID-Syndroms. Alle genannten Studien sind auf der MUW-Homepage abrufbar (www. meduniwien.ac.at/web/forschung/forschungzu-covid-19). Da ich diese Studien fachlich nicht alle auswendig kenne, kann ich nur versuchen, in Stichworten einen kurzen Überblick zu geben:
• Eine Verlaufsstudie mit selbst berichteten Daten zu COVID-19-Symptomen und ein Register für „Long COVID Österreich“ laufen unter der Führung von Prof. Tanja Stamm vom Institut für Outcomes Research.
• Lang andauernde Riechstörungen (Studienleiter: Christian Albert Müller) sowie postvirale gastrointestinale Barrieredysfunktion (Eva Untersmayr-Elsenhuber) bei Long-COVIDPatienten werden an den Abteilungen für HNO und Gastroenterologie untersucht.
• Die Prävalenz von mikro- und makrovaskulären Veränderungen sowie thromboembolische Erkrankungen werden in verschiedenen Arbeitsgruppen der Klinik für Innere Medizin II, Abteilung für Kardiologie (Nika Skoro-Sajer) und Angiologie (Sophie Brunner-Ziegler), charakterisiert.
• Die pulmonale und die kardiale Beteiligung von Long-COVID-Syndromen wird an den Abteilungen für Pulmologie (Daniela Gompelmann) und für Kardiologie (Arbeitsgruppe von Julia Mascherbauer und Mariann PavoneGyöngyösi) erforscht.
• Psychische Belastungen (Oswald Kothgassner, Univ.-Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie) und die Effekte eines multifaktoriellen Rehabilitationsprogramms für Gesundheitspersonal (Richard Crevenna, Univ.-Klinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin) werden ebenfalls untersucht.
Was sind die Ursachen für die Beschwerden? Gibt es auch andere respiratorische Infekte, von denen Langzeitfolgen in diesem Ausmaß bekannt sind?
Die genauen Mechanismen sind noch nicht bekannt. Es gibt aber bereits einige plausible Theorien, die momentan untersucht werden:
Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat die postviralen Symptome von Long COVID mit Influenza verglichen. Während einer maximal 6 Monate andauernden Beobachtungszeit zeigten die Post-COVID-Patienten eine signifikant höhere Inzidenz von Symptomen als die Post-Influenza-Patienten. 3–6 Monate nach der Infektion wiesen 36,55 % der Post-COVID- und 29,7 % der Post-Influenza-Patienten persistierende Symptome auf. Dieser Unterschied betraf alle untersuchten Symptome gleichermaßen und signifikant: Brustschmerzen, Dyspnoe, Bauchbeschwerden, Kopfschmerzen, kognitive Symptome.
Wie steht es um die Verfügbarkeit von Medikamenten und (un-)spezifischen Therapeutika?
Wenn keine objektivierbaren Organschäden vorliegen, gibt es derzeit keine evidenzbasierte Behandlung. Die „Zur Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen ist festzuhalten, dass von einer hohen Dunkelziffer für Long COVID ausgegangen wird.“ 8 DFP INSIDE Therapie richtet sich nach den Symptomen. Es ist außerdem wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei den meisten Patienten mit der Zeit eine wesentliche Besserung der Symptome eintritt und das Long-COVID-Syndrom nach aktuellem Wissensstand keinerlei Einfluss auf die Lebenserwartung hat. Es gibt ein immer größer werdendes Angebot an Rehabilitationsprogrammen, psychologischer Betreuung und Selbsthilfegruppen, etwa unter www.longcovidaustria.at oder www.long-covid.at.
In einigen Fällen können Antihistaminika, Betablocker und nicht-steroidale Antirheumatika helfen. Einige Patienten berichten über Symptombesserung unter Therapie mit hoch dosiertem Vitamin C oder Nahrungsergänzungsmitteln wie Selen, Eisen, Vitamin D3, Quercetin oder Vitamin-B-Komplexen. Zudem gibt es einige experimentelle Therapien, die derzeit untersucht werden, wie intravasale Laserblutbestrahlung, hyperbarer Sauerstoff und experimentelle Arzneistoffe. Evidenzbasierte Therapieempfehlungen gibt es allerdings, wie gesagt, keine.
Gibt es bereits Long-COVID-Guidelines?
Es gibt viele Guidelines für die Diagnose und Rehabilitation in der internationalen Literatur. Mitte Juli wurden die Deutschen Long-/Post-COVID-Empfehlungen für die Praxis veröffentlicht. Diese Guideline wurde auch in der Österreichischen Ärztezeitung (Nr. 17/10.09.2021) publiziert, in der wir auch einige ergänzende Informationen zu Prävalenz, Diagnostik, Prognose und Therapiemöglichkeiten veröffentlicht haben. Mitte September erschien mit der sehr gelungenen österreichischen S1- Leitlinie „Long COVID“ als Kurzfassung eine adaptierte und kürzere Version der deutschen Leitlinien.
Eine Forderung seitens der Bundesländer nach speziellen Reha-Einrichtungen hat der Dachverband der Sozialversicherungsträger abgelehnt und dies mit der Heterogenität der Erkrankung begründet. Zu Recht?
Meiner Meinung nach sollten Patienten mit heterogenen Symptomen und ohne nachweisbare Organschädigungen auch eine durch die Versicherung finanziell abgedeckte Rehabilitationsmöglichkeit bekommen. Leider können wir die wirtschaftlichen Konsequenzen der Arbeitsunfähigkeit durch die fehlende statistische Analysemöglichkeit von Long COVID nicht abschätzen. Es stellt sich die Frage: Was ist teurer? Einen drei- bis vierwöchigen Reha-Aufenthalt zu finanzieren oder der wirtschaftliche Verlust durch die Arbeitsunfähigkeit der Long-COVID-Patienten? Das ist insbesondere deshalb zu beachten, weil die meisten Long-COVID-Patienten jung sind und nach ihrer COVID-Erkrankung oft gar nicht oder nur halbtags arbeiten können.
Vielen Dank für das Gespräch!