Siebenhofer-Kroitzsch: Vergleicht man Österreich mit anderen europäischen Ländern, so fällt auf, dass Länder mit starker Primärversorgung ganz andere Kennzahlen haben als Österreich. So ist beispielsweise die Zahl der Krankenhausaufenthalte hierzulande viermal so hoch wie in Schweden. Das spiegelt die starke Zentrierung auf den sekundären Sektor wider.Darüber hinaus schneidet Österreich im europäischen Vergleich bei vielen anderen für eine starke Primärversorgung wichtigen Kriterien schlecht ab. Einige Beispiele: Es gibt nach wie vor nur wenige teamorientierte Modelle, dafür aber viele Einzelkämpfer. Statt Gesundheitsförderung und Prävention steht die anlassbezogene Behandlung im Vordergrund. Eine eigene politische Vertretung der Primärversorger fehlt weitgehend. Und ich könnte noch viele weitere Punkte anführen … Insgesamt ergibt sich leider das Bild, dass Österreich im Bereich der Primärversorgung schwach aufgestellt ist.
Ein Wundermittel – also eine spezielle, einzelne Maßnahme – zur Verbesserung und Stärkung der Primärversorgung gibt es nicht. Wir brauchen ein Maßnahmenpaket, und dieses muss von allen Playern (Politik, Krankenkassen, Universitäten etc.) gemeinsam umgesetzt werden. Welche Maßnahmen in dieses Paket gehören, weiß man – in Österreich existieren dazu bereits zahlreiche Unterlagen.
Rezent wurde der Masterplan zur Attraktivierung der Allgemeinmedizin von der ÖGAM veröffentlicht, der viele Ideen und Konzepte enthält. Und auch aus unserem Institut liegen zwei Berichte vor: Einer widmet sich Präventionsmaßnahmen gegen den Hausärztemangel, bei dem anderen handelt es sich um eine Befragung von Medizinstudierenden und Turnusärzten über ihre Berufsmotivation zur Allgemeinmedizin.1, 2 Darüber hinaus werden auch stets vom Gesundheitsministerium und von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) entsprechende Unterlagen entwickelt. Die Maßnahmen liegen also auf dem Tisch, was bislang fehlt, ist die konkrete Umsetzung.
Ich denke, ja. Während sich die Ärztedichte in Österreich seit den 1960er-Jahren vervierfacht hat, ist die Zahl der praktisch tätigen Hausärzte sogar geringfügig rückläufig. Der Trend geht also klar in Richtung Spezialisierung und damit weg von der generalisierten Medizin. Im Deutschen Ärzteblatt war kürzlich zu lesen, dass es bei unseren Nachbarn bereits 80 verschiedene Facharztdisziplinen gibt!
Wie lässt sich das erklären? Die Hausarztmedizin leidet unter einem Attraktivitätsverlust. Ein wichtiger Faktor: Allgemeinmediziner fühlen sich in ihrer Wertschätzung benachteiligt, zum einen von Kollegen anderer Fachdisziplinen, zum anderen auch durch das Gesundheitssystem. So gibt es Unterschiede in der Leistungshonorierung und leider nach wie vor auch keinen Facharzt für Allgemeinmedizin. Dazu kommt der generelle, nicht nur auf Mediziner beschränkte Trend der Abwanderung in die Städte, der vor allem am Land zu einer Ausdünnung der Primärversorgung führt.
Die Stärkung der Primärversorgung beginnt bereits bei der Ausbildung. Diese ist sehr krankenhauslastig, das heißt, wir brauchen hier ein Gegengewicht im niedergelassenen Bereich. Den Studierenden soll schon früh in der Ausbildung vermittelt werden, dass die Allgemeinmedizin ein breites Fach und die Arbeit in der niedergelassenen Praxis interessant und abwechslungsreich ist. Eine weitere essenzielle Aufgabe universitärer Institute für Allgemeinmedizin ist die Vermittlung von Basiskompetenzen im Studium.
Ziele des IAMEV sind die Stärkung der Allgemeinmedizin sowie die Verbesserung der Qualität und Effektivität der medizinischen Versorgung. Wir sehen uns als primärer Ansprechpartner an der MedUni Graz in allen Belangen der Allgemeinmedizin und der evidenzbasierten Medizin. Wichtig ist uns, fachlich unabhängig und transparent zu arbeiten.
Seit seiner Gründung 2015 ist das IAMEV stetig gewachsen und ist heute mit gut 20 Mitarbeitern das größte allgemeinmedizinische Institut an einer österreichischen Universität. Es handelt sich um ein vorklinisches Institut, das heißt, wir sind am Institut selber nicht ärztlich tätig. Allerdings sind mehrere Mitarbeiter auch hausärztlich tätig – eine wichtige und konstante Verbindung zwischen Akademia und Praxis. Hinzu kommt, dass wir rund 30 externe Lehrende haben, die für Vorlesungen zu unseren Studierenden kommen, sowie über 100 Lehrpraxen, in denen sie Praxiserfahrung sammeln können.
Bei all unseren wissenschaftlichen Projekten steht die Frage nach der Versorgungsrelevanz im Vordergrund. So entwickeln wir aktuell auf Basis des Primärversorgungsgesetzes sowie von gesundheitswissenschaftlichem State of the Art ein Versorgungskonzept für steirische Gesundheitszentren, das in der Folge für Entscheidungen der Stakeholder wie auch von den beteiligten Gesundheitsberufen verwendet werden kann.
Ein weiteres Projekt ist die Erstellung eines Behandlungspfades für den nicht-spezifischen Rückenschmerz auf Primärversorgungsebene, im Auftrag des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger. Dieser soll eine strukturierte und multiprofessionelle Behandlung betroffener Patienten ermöglichen, wie es eben einer modernen Primärversorgung entspricht.
Ein angesichts des zunehmenden Landärztemangels sehr wichtiges Projekt ist die „LandarztZUKUNFT – junge Ärztinnen und Ärzte raus aufs Land“. Im Rahmen dieses Projekts haben Studierende zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Ausbildung (Famulatur, KPJ) die Möglichkeit, die Lebens- und Arbeitswelt von Landärzten kennenzulernen. Den Studierenden werden für jeweils vier Wochen vonseiten der beteiligten steirischen Regionen Wohnungen, Elektrofahrzeuge und ein begleitendes Freizeitprogramm zur Verfügung gestellt, um den Aufenthalt vor Ort neben der Mitarbeit in den Arztpraxen möglichst angenehm und abwechslungsreich zu gestalten. Ziel ist es, die landärztliche Berufs- und Lebenswelt für Medizinstudierende erlebbar zu machen und sie so zu einer späteren Landarzttätigkeit zu motivieren.
Als letztes Beispiel möchte ich das Projekt EvI (evidenzbasierte Informationen zur Unterstützung von gesundheitskompetenten Entscheidungen) nennen. Der steirischen Bevölkerung sollen evidenzbasierte Gesundheitsinformationen über Hausarztpraxen und Gesundheitszentren zur Verfügung gestellt werden, um ihnen eine informierte Gesundheitsentscheidung zu ermöglichen. Im Rahmen von EvI stellen wir daher eine Sammlung von geprüften, evidenzbasierten Gesundheitsinformationen zusammen, die sowohl in Form einer Papierbox – der sogenannten EvI-Box – als auch elektronisch auf der EvI-Homepage verfügbar sein werden.
Mich interessiert prinzipiell die Optimierung der Versorgung. Ein Thema, das mich momentan besonders reizt: die medizinische Überversorgung. Ein Zuviel an Behandlung tut den Menschen nicht gut, wir sollten uns auf das Notwendige und Wichtige beschränken. Wenn wir das, was zu viel ist, weglassen, haben wir mehr Zeit und Ressourcen für Nützliches. Ich wehre mich gegen „overdiagnosis“ und „overtreatment“.
Genau. An der Goethe-Universität Frankfurt habe ich eine Professur für chronische Krankheit und Versorgungsforschung. Chronisch Kranke bedürfen einer jahrelangen, kontinuierlichen Betreuung mit einem umfassenden, multiprofessionellen Case Management. Das Thema ist und bleibt spannend, zumal durch die Altersstruktur der Bevölkerung zunehmend mehr multimorbide Patienten, aber auch Chronikerfälle auf uns als Ärzte zukommen werden.
Sicherlich eine sehr wichtige. Chronische Erkrankungen wie Diabetes, Rheuma oder Herzkrankheiten zählen zu den häufigsten Behandlungsursachen in der Hausarztpraxis. Chronisch Kranke sollten generell vom Hausarzt betreut werden und nur in Ausnahmefällen, wenn Spezialwissen erforderlich ist, an einen entsprechenden Facharzt überwiesen werden. Der Hausarzt sollte im Prinzip die Eintrittspforte ins System darstellen.
Eine Berufsgruppe, die in der Betreuung chronisch Kranker immer wichtiger werden wird, ist meiner Meinung nach die Pflege. Nicht immer ist hier ärztliche Kompetenz, sondern häufig auch pflegerische Kompetenz gefragt.
Zum Glück gefällt es ihnen nicht mehr! Junge Ärzte haben häufig ganz andere Lebensziele und Perspektiven, auch was familiäre Konstellationen anbelangt. Das klassische Modell – er Arzt, sie Arztgattin – ist aus meiner Sicht ein Auslaufmodell. Im Gegenteil, die Zukunft der Medizin ist weiblich und Frauen haben sowieso eine andere Zugangsweise. Insgesamt lässt sich sagen: Der Trend geht klar in Richtung Teamwork.
Ich verwende lieber den Begriff „Einheiten“ statt „Zentren“. Denn Zentrum impliziert, dass es einen ortsgebundenen Mittelpunkt geben muss, und dem ist nicht so.
Grundsätzlich halte ich Primärversorgungseinheiten für einen guten Lösungsansatz. Allerdings immer unter der Voraussetzung, dass man in die jeweilige Region schaut, was vor Ort gebraucht wird und was möglich ist. Je nach vorhandenen Strukturen, Bevölkerungsdichte, Alterszustand etc. sollte die ideale Zusammenarbeitsform – ob Zentrum oder Netzwerk – gewählt werden. Das muss man variabel gestalten.
Zum zweiten Mal in der Geschichte des EbM-Netzwerks fand die Jahrestagung in Österreich, genauer gesagt, auf dem MED CAMPUS der MedUni Graz statt. Mit der Organisation betraut war das IAMEV. Mit mehr als 500 Teilnehmern aus 12 Ländern war die Veranstaltung ein voller Erfolg.
Unter dem Motto „Brücken bauen – von der Evidenz zum Patientenwohl“ wurden zahlreiche Workshops, Symposien und Vorträge über Fortschritte, Barrieren und Verbesserungsansätze die evidenzbasierte Medizin in der Gesundheitsvorsorge betreffend abgehalten. Besonders spannend aus meiner Sicht war z. B. die Keynote Lecture von Prof. Paul Glasziou (Australien): Er zeigte, dass nicht-medikamentöse Maßnahmen mit nachgewiesenem Nutzen oft nicht bei den Patienten ankommen. Verantwortlich dafür ist laut Glasziou unter anderem die schlechte Beschreibung über eine detailgenaue Befolgung der Therapieschritte in den wissenschaftlichen Studien und natürlich auch, dass die Industrie hierfür keinen Benefit sieht.
Toll waren auch die Stimmung unter den Teilnehmern, die Freude an der Diskussion sowie die Möglichkeiten zum interkollegialen Austausch und zum Ausbau des beruflichen Netzwerks. Einen Besuch dieser Veranstaltung kann ich nur empfehlen – 2019 bietet sich die Gelegenheit dazu in Berlin.
Ich glaube ja, und es ist wichtig, denn es schützt den Arzt und es schützt den Patienten. Natürlich gibt es manchmal Lücken in der Evidenz und hier stellt sich dann die Frage: Tut man als Arzt einfach „irgendetwas“? Oder versucht man vielleicht selber, Evidenz aufzubauen, indem man beispielsweise vorsichtig experimentiert, engmaschig kontrolliert und das Ergebnis sorgfältig dokumentiert? Und das Wichtigste: Wenn keine Evidenz vorliegt, muss der Patient darüber Bescheid wissen. Alle Behandlungsoptionen sollten offen besprochen und der Patient in den Entscheidungsprozess eingebunden werden.
Ich würde mir wünschen, dass die zusammengetragenen Ideen und Konzepte zur Verbesserung und Stärkung der Primärversorgung in Österreich – die hinlänglich bekannt sind – in die Praxis umgesetzt werden. Stichwort: Facharzt für Allgemeinmedizin, zeitgemäße Niederlassungsformen u. v. m. Um die notwendigen Veränderungen zu erzielen, müssen alle Stakeholder an einem Strang ziehen. Es ist Zeit, der Hut brennt!
Vielen Dank für das Gespräch!