Interview

Wann Melatonin helfen kann

ARZT & PRAXIS: Was macht guten Kinderschlaf aus und welche Rolle spielt Melatonin dabei?
Dr.in Regina Rath-Wacenovsky: Die Form des Kinderschlafes ist – wie alles andere in der Entwicklung von Kindern – abhängig vom Alter. So wird beim Baby nur zwischen REM- und Non-REM-Schlaf unterschieden. Andere Schlaf- bzw. Tiefschlafstadien kommen erst später hinzu und lassen sich in Form eines Hypnogramms darstellen. Daneben werden auch die REM-Phasen abgebildet. Kinderschlaf hat im Vergleich zu Erwachsenen einen wesentlich größeren Anteil an REM-Phasen („Traumphasen“). Diese gleichmäßige Schlafverteilung ist besonders wichtig für Lernen und Entwicklung. Bis zur Pubertät verändert sich der Schlaf. Gerade in der Pubertät kann es zu Verschiebungen kommen, die herausfordernd sein können. Die dann auftretenden abweichenden Tagesrhythmen wie ein spätes Zubettgehen sind zwar nicht primär dem Medienkonsum geschuldet, werden dadurch aber verstärkt.
Schlaf wird immer gerne als etwas „Natürliches“ angesehen, das durch eine innere Uhr vorgegeben ist. Das ist aber ein Mythos. Unser Schlaf orientiert sich vielmehr an unseren äußeren Rhythmusgebern. Die Annahme, dass ein 8-Stunden-Schlaf das Optimum darstellt, entspringt einer Drittelung des Tages und geht vom 8-Stunden-Arbeitstag (Industrialisierung) aus. Wir passen unseren Stoffwechsel und unsere Hormonausschüttung, insbesondere von Melatonin, unserer Umwelt und unseren Aufgaben an. Wahr ist aber, dass es verschiedene Schlaftypen, die ihr Leistungsmaximum eher morgens oder abends haben, gibt („Eule“ bzw. „Lerche“).
Der wesentliche Faktor für den Schlaf ist das Umfeld. Das ist auch diagnostisch bei Schlafstörungen der Punkt, auf den man sich primär konzentrieren sollte. Das Melatonin ist hier ein wesentlicher Player, dessen Ausschüttung und Wirksamkeit vom Licht abhängen. Daher ist auch eine Melatonineinnahme mit nachfolgender Lichtexposition wenig bis kaum wirksam. Und deshalb fühlen wir uns auch im Sommer und im Winter zu unterschiedlichen Zeiten müde.
Die wichtige Botschaft lautet: Wir können unseren Schlaf durch ein gesundes Umfeld bzw. einen entsprechenden Rhythmus gestalten, und unser inneres Melatonin ist ein Tool dafür.

Warum ist Melatonin aktuell ein viel diskutiertes Thema?
Weil Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel eingestuft und nun in jeder nur erdenklichen Form erhältlich ist, sei es als Gummibärli, Saft oder Spray. Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter haben eine Prävalenz von ca. 20 % und somit kennt fast jede Familie eine Phase, in der es Probleme mit dem Schlaf des Kindes gibt. Da ist eine vermeintlich harmlose, natürliche Therapieoption natürlich verlockend. Melatonin birgt aber – insbesondere in hohen Dosen – durchaus ein Gefahrenpotenzial. So sind in den USA Kinder nach absichtlichem Medikamentenmissbrauch gestorben.
Damit waren die Fachgesellschaften gefordert, die Kolleg:innen und Patient:innen zu informieren und eine ärztliche Verschreibung zu empfehlen. Melatonin ist ein mögliches Tool der Schlafmedizin, es kann jedoch bei einer entsprechenden Konstellation bzw. Überdosierung – vor allem, wenn Arousal-Funktionen nicht mehr richtig arbeiten – zu lebensgefährlichen Situationen kommen.

Wie hängen die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Schlaf und Melatonin zusammen?
ADHS und Schlaf hängen eng zusammen. Früher beinhalteten auch die ADHS-Kriterien Schlafstörungen. Leider ist das heute nicht mehr der Fall, weshalb dieser Zusammenhang weniger Beachtung findet. Kinder mit ADHS weisen in 50–70 % der Fälle Schlafstörungen auf. Das umfasst Probleme beim Einschlafen, unruhigen Schlaf, nächtliches Erwachen und morgendliches Aufwachen, und dies ergibt häufig einen mühsamen Teufelskreis: Hyperaktive Kinder haben mit dem Schlaf Schwierigkeiten. Umgekehrt wissen wir, dass mangelnder oder mangelhafter Schlaf sogar bei gesunden Kindern zum Auftreten von großer Unruhe, oft auch mit ADHS-ähnlicher Symptomatik, führen kann. Das kennt man von kleinen Kindern: Wenn sie sehr müde sind, werden sie typischerweise nicht ruhiger, sondern aktiver, bis sie nicht mehr können. Kurz gesagt: Ein „überdrehtes Kind“ ist oft einfach nur müde.

Melatonin eignet sich bei ADHS besonders gut. Warum?
Melatonin ist eine wesentliche und relativ einfache Option, den beschriebenen Teufelskreis durch die Induktion eines guten, erholsamen Schlafes zu durchbrechen. Denn andere „Schlafmittel“ wie Barbiturate oder Benzodiazepine, wie wir sie aus der Erwachsenenmedizin kennen, sind in der Pädiatrie im Alltag ein No-Go.

Weshalb?
Klassische Schlafmittel führen nicht zu einem normalen Schlafprofil, sondern zu einem „verfälschten“ Schlaf mit unzureichender Erholung, Lernfähigkeit, Entwicklung und Wahrnehmung.

Zurück zu Melatonin: Wie und wann soll es eingenommen werden?
Was wir brauchen, ist ein Mittel, das den Schlaf anstößt und auch eine Zeit lang wirkt. Unter Mellozan® kommt es zu einer raschen Freisetzung von Melatonin, was insbesondere bei Einschlafproblemen, wie sie bei ADHS im Vordergrund stehen, von zentraler Bedeutung ist. Das würde in der Therapie eine spürbare Verbesserung bedeuten. Ohne richtige Schlafgewohnheiten bzw. -rituale wird Melatonin kaum funktionieren und kann seine Wirkung nicht ausspielen.
Wann Melatonin grundsätzlich genommen werden soll, kommt auf die Galenik und die Indikation an. Generell muss man sich nach der jeweiligen Fachinformation richten, die pharmakodynamische und pharmakokinetische Faktoren berücksichtigt, und diese fehlen bei den als „Nahrungsergänzungsmittel“ eingestuften Melatonin-Formen. Jedenfalls braucht es eine ärztliche Betreuung. Von einer Selbstmedikation ist dringend abzuraten, insbesondere bei vorhandenen Grunderkrankungen.

Was muss man sonst noch beachten?
Es gibt Kontraindikationen und natürlich auch Interaktionen mit anderen Medikamenten oder auch Substanzen, die wie Melatonin über das Cytochrom-P450-System metabolisiert werden.

Wie wichtig sind die angesprochenen Schlafroutinen?
Schlafroutinen sind essenziell und erlauben auch, den Schlaf zu beeinflussen. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Umgebung mit gewohnten Gerüchen und Geräuschen, aber auch Schlafrituale wie Gute-Nacht-Geschichten. Wichtig ist auch, den Schlafdruck, der sich bei jedem bzw. jeder von uns aufbaut, bei Kindern zu erkennen und ihnen die Möglichkeit zu geben, diesem Druck nachzugeben. Ein entscheidender Faktor ist, dass diese Rituale, wie z. B. Gute-Nacht-Geschichten, mit einem Menschen verbunden sind und nicht von einem digitalen Medium abgespielt werden.
Dennoch stößt man auch im Umgang mit Schlafroutinen an Grenzen. Dabei muss man immer beachten, dass DAS perfekte Schlafen nicht existiert. Entgegen landläufiger Meinung gibt es auch Kinder, die tatsächlich nicht mehr als 6 Stunden Schlaf benötigen, um ausgeschlafen zu sein. Wenn dieses Kind um 20 Uhr ins Bett geschickt wird, ist es um 2 Uhr ausgeschlafen, wacht auf und das Umfeld denkt, es handle sich um eine Schlafstörung. In solchen Fällen muss versucht werden, den Lebensrhythmus der gesamten Familie in Einklang zu bringen. Gleiches gilt für ein höheres Schlafbedürfnis des Kindes. Schlaf hat soziale, persönliche, kulturelle, chemisch-biologische sowie genetische Faktoren, die wir alle therapeutisch berücksichtigen müssen und nur zum Teil beeinflussen können.

Digitale Lösungen können den persönlichen Kontakt wohl nicht ersetzen. Aber inwieweit können neue digitale Anwendungen helfen, einen gesunden Schlaf zu unterstützen bzw. zu ermöglichen?
Digitale Medien können durchaus unterstützend sein, bieten aber Eltern auch eine Fülle von Ratschlägen, von denen viele sehr fragwürdig sind. Wichtig ist, unabhängig davon, ob es sich um eine App oder ein anderes digitales Medium handelt, dass die Informationen vertrauenswürdig sind. Wir leben aber nun einmal in einer stark digitalisierten Welt und dürfen sinnvolle Angebote auch nutzen. Dabei können digitale Medien eine gute Ergänzung darstellen, aber die gesammelten und gewonnenen Daten müssen unter ärztlicher Einbindung interpretiert und angewendet werden. Reine Schlaf-Apps sehe ich sehr kritisch, besser sind beispielsweise digitale Schlaftagebücher. Was wir unbedingt bedenken müssen, ist, dass hier eine Unmenge persönlicher und sensibler Gesundheitsdaten von Kindern gesammelt werden. In Deutschland gibt es Qualitätskriterien für jene Apps, die auch von den Krankenkassen bezahlt werden. Bei Apps, die erstattet werden, kann man dann davon ausgehen, dass sie auch gesetzeskonform mit den gewonnenen Daten umgehen. In Österreich ist diese digitale Gesundheitsunterstützung angedacht und Kriterien sind festgesetzt; diese sind jedoch nicht bei den Versicherungsträgern und im ärztlichen Bereich angekommen.
Besonders wichtig erscheint mir, die Bedeutung des Schlafes und dessen enge Verbindung mit Gesundheit, Entwicklung und Wohlbefinden hervorzuheben, und ich möchte Mediziner:innen motivieren, die Schlafanamnese eines jeden Kindes und Jugendlichen fix in die Betreuung einzubeziehen. Wenn dazu neue Tools oder Therapeutika bereitstehen, um Familien zu unterstützen, ist das erfreulich.

Vielen Dank für das Gespräch!