Interview

Weniger Bildschirmzeit, bessere Kindesentwicklung

ARZT & PRAXIS: Welche langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen haben übermäßige Bildschirmzeiten und exzessive Smartphone-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen?
Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl: Der übermäßige Konsum von digitalen Medien ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Ein erster Punkt, der sich auch schon im frühkindlichen Alter ganz wesentlich bemerkbar macht, ist die soziale Entwicklung. Sie hängt klarerweise sehr stark von natürlichen sozialen Kontakten ab. Und diese natürlichen sozialen Kontakte, in erster Linie die Bindung zu den Eltern und zur Familie, werden durch übermäßigen Medienkonsum negativ beeinflusst. Smartphone und Tablet werden leider immer häufiger als „Babysitter“ eingesetzt. Man sieht mittlerweile schon 6 oder 7 Monate alte Babys, die am Smartphone oder Tablet herumwischen. Das beeinträchtigt neben der sozialen auch die emotionale Entwicklung.
Bei älteren Kindern, also bei Schulkindern und vor allem bei Jugendlichen, hat die übermäßige Smartphone-Nutzung und insbesondere der Konsum sogenannter sozialer Medien auch starken Einfluss auf den Schlaf. Und zwar sowohl auf die Schlafqualität als auch auf das Schlafquantum, was wiederum negative Folgen für die Tagesbefindlichkeit hat. Letztlich führt der Konsum auch zu mehr „sedentary time“, also Zeit, die man sitzend verbringt.

Gleichzeitig reduziert sich damit jene Zeit, in der die Kinder draußen spielen und Freundschaften außerhalb der virtuellen Welt gepflegt werden. Und durch den so hervorgerufenen Bewegungsmangel trägt übermäßiger Medienkonsum auch stark zum Übergewicht bei. Ein Punkt, der vielen Menschen vielleicht nicht so bewusst ist, betrifft das Augenwachstum: Die frühe Beschäftigung mit Handy oder Tablet in Nahakkommodation führt vermehrt zu Kurzsichtigkeit. Diese unterscheidet sich von der rein optischen Kurzsichtigkeit dadurch, dass sie zu ausgeprägten Fehlentwicklungen des Augapfels führt, wodurch es in weiterer Folge auch zu dramatischen Folgen wie einer Netzhautablösung kommen kann.

Gibt es eine besonders vulnerable Phase für das Augenwachstum?
Ja, das frühe Kindesalter. Das ist eine Phase, in der das Auge durch das Wachstum besonders „empfindlich“ ist für anatomische Fehlentwicklungen. In dieser Lebensphase – aber auch später – ist es daher wichtig, ausreichend Zeiten der Fernakkomodation bei guten Lichtverhältnissen vorzusehen. Dies geschieht idealerweise durch längere Aufenthalte im Freien mit Blick in die Ferne.

Wird auch deshalb empfohlen, dass Kinder unter 2 Jahren überhaupt keinen Kontakt mit Bildschirmen haben sollten?
Ja, das Sehvermögen und die soziale Entwicklung sind hier die wesentlichen Faktoren. Die soziale Entwicklung leidet sehr stark darunter, wenn das Kind statt mit einer Gute-Nacht-Geschichte oder einem vorgelesenen Kinderbuch mit einem Handy, das ein Video abspielt, unterhalten oder zu Bett gebracht wird. Leider erleben wir sehr häufig, dass Eltern einfach das Handy oder Tablet ins Bett legen und ein Video abspielen. Diese meiner Meinung nach „moderne Form“ der sozialen Vernachlässigung beginnt oft schon bei Kindern, die nicht älter als 6 Monate sind. Wir sehen nicht selten, dass in unseren Krankenzimmern sich sowohl die begleitende Mutter als auch das Kind mit dem Handy beschäftigen und oft kaum miteinander kommunizieren.
Ein Punkt, der Unter-2-Jährige, aber auch Ältere betrifft, ist die noch unzureichende Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt. Die Smartphone-Inhalte können so schnell zu Überforderung und zum Verlust des Realitätsbezugs führen. Das wird dann später bei Jugendlichen mitunter zu einem großen Problem, weil es beispielsweise dazu führen kann, dass konsumierte Inhalte wie Gewaltdarstellungen nicht mehr als abnorm empfunden werden.

Welche konkreten Auswirkungen hat die exzessive Nutzung?
Studien zeigen, dass exzessive Mediennutzung neben somatischen Folgen wie Übergewicht und Haltungsschäden auch das Bildungsniveau negativ beeinflusst, insbesondere in Bezug auf Sprachverhalten, emotionales Verständnis und intellektuelle Entwicklung. Diese Auswirkungen sind zudem stark vom Sozialstatus abhängig: In sozial benachteiligten Familien sind die negativen Folgen stärker ausgeprägt als in besser gestellten, was zu einem doppelten Handicap sozial Benachteiligter führt.

Welche Altersgruppen sind besonders gefährdet, negative Auswirkungen zu erleben, und welche Faktoren tragen dazu bei?
Dazu gibt es keine guten vergleichenden Studien. Aus meiner Sicht betrifft die Problematik vor allem sehr junge Kinder, die viel zu früh viel zu stark mit digitalen Medien in Kontakt gebracht werden. Und auf der anderen Seite sind es die Jugendlichen, die nicht nur viel zu lange Nutzungszeiten haben, sondern häufig auch mit sehr kritischen Inhalten konfrontiert werden. Cyber-Gaming, Cyber-Mobbing und Cyber-Grooming sind nur einige dieser für Jugendliche bestehenden Risiken der „digitalen Welt“ – neben der Abhängigkeit von diesen Medien bis hin zur tatsächlichen Sucht.

Welche präventiven Maßnahmen gegen falschen oder exzessiven Konsum gibt es?
Ganz zentral wäre natürlich die Einschränkung der Nutzungszeiten. Denkbar sind entsprechende Apps, die den normalen Betrieb eines Smartphones nur zu bestimmten Zeiten zulassen. Ausgenommen davon sollte natürlich die Erreichbarkeit der Eltern sein – dies lässt sich aber technisch ganz einfach lösen. Und wesentlich wäre natürlich auch die Selektion der Inhalte, die ebenfalls durch digitale Sperren erreicht werden kann. Eltern tragen hier meines Erachtens eine hohe Verantwortung und sollten wissen, was ihre Kinder mit ihren Smartphones tun, und vor allem, welche Inhalte sie konsumieren.
Eine eigentlich recht einfach umzusetzende Maßnahme wären handyfreie Schulen. Wir haben diesbezüglich auch schon mit den Ministerien gesprochen. Dafür gibt es auch Verständnis, aber – im Unterschied zu einigen anderen europäischen Ländern – den Willen zur Umsetzung leider (noch) nicht wirklich. Ein Modell dafür wären z.B. „Handygaragen“, wo alle Smartphones während des Schultages „geparkt“ bleiben. International und in einigen österreichischen Schulen funktioniert das teilweise schon sehr gut.

Inwiefern können die ständige Erreichbarkeit und der Gebrauch sozialer Medien die emotionale Entwicklung bzw. das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen?
Sehr stark. Jeder, der mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, sieht, welchen Stellenwert das Smartphone im Alltag hat. Beinahe jeder schaut starr in sein Smartphone, die Umgebung wird kaum mehr wahrgenommen. Offensichtlich haben wir im digitalen Zeitalter Angst, etwas zu verpassen, irgendeine Nachricht nicht zu sehen. Diese ubiquitäre Abhängigkeit ist sehr stark und teilweise zur Sucht geworden. Dem müssen wir zweifelsohne gemeinsam entgegenwirken.
Analog zur handyfreien Schule kann man sich auch zu Hause darauf einigen, dass die Schlaf- bzw. Kinderzimmer handyfrei bleiben. Das sollte auch für die Erwachsenen gelten. Denn nur bei entsprechendem Vorbild werden derartige Regeln auch akzeptiert. Und es schadet ja auch Erwachsenen nicht. Jugendliche kann man für so etwas nur mit einem gewissen Belohnungssystem gewinnen. Beispielsweise kann man mit der Einhaltung dieser Regeln den Besuch eines Musikfestivals oder Ähnlichem verknüpfen. Völlige Smartphone-Abstinenz werden wir ab einem gewissen Alter nicht erreichen; das muss auch nicht das Ziel sein. Ziel sollte vielmehr der zeitlich begrenzte, verantwortungsvolle und reflektierte Umgang mit dem Smartphone sein.

Für Kinder unter 2 Jahren wird von jeglicher Bildschirmzeit abgeraten. Was gilt danach?
Die Stellungnahme der ÖGKJ aus dem Jahr 2021 empfiehlt vom 3. bis zum 6. Lebensjahr eine Beschränkung der Mediennutzung auf etwa eine Stunde pro Tag. Über dieses Alter hinaus wird es schwieriger. Je kleiner die Kinder sind, desto wichtiger ist die Begleitung der Nutzung durch einen Erwachsenen. Eines kann man festhalten: So, wie wir als Gesellschaft digitale Medien derzeit nutzen – teilweise mehr als 10 Stunden –, ist es einfach zu viel.
Dabei kommt es natürlich nicht nur auf die Zeit an, sondern auch auf den Inhalt. Zudem ist auch nicht ganz klar, was als Mediennutzungszeit bezeichnet werden soll. Wenn ich auf eine Nachricht warte, ist das schon Mediennutzungszeit? Deswegen glaube ich auch, dass eine exakte Zeitempfehlung nicht wirklich sinnvoll ist. Ich glaube, es ist wichtiger, ausreichend Zeiten zu definieren, die völlig medien- bzw. handyfrei sind. Wichtiger wäre wirklich, die Abhängigkeit zu durchbrechen, indem man sagt: Das Schlafzimmer ist handyfrei, die Schule ist handyfrei und das gemeinsame Essen ist handyfrei. Es geht um das Erlernen und Erhalten unserer (realen) sozialen Kontakte – in der Familie, in der Schule und in der Gesellschaft insgesamt.

Vielen Dank für das Gespräch!