14. Europäischer Gesundheitskongress: Wie misst man Nichtstun?

Rechtzeitig zum Höhepunkt des diesjährigen Oktoberfestes fand in München der 14. Europäische Gesundheitskongress statt. Aber nicht nur Bayerns Hauptstadt selbst war an diesen Tagen übervoll, auch die Veranstaltungsräume im Hotel Hilton direkt am Englischen Garten platzten trotz des traumhaften Herbstwetters und manches Wiesn-Katers aus allen Nähten. 800 Teilnehmer aus neun Ländern, dazu zahlreiche renommierte Experten, Vortragende und Aussteller waren gekommen, um über das Thema „Ökonomisierung – ein vermeidbarer Trend?“ zu debattieren und Erfahrungen auszutauschen.
Österreich war zumindest am Eröffnungspodium prominent vertreten. Familienministerin Dr. Sophie Karmasin und der Präsident der Österreichischen Ärztekammer Dr. Artur Wechselberger diskutierten mit deutschen Experten über die Gestaltungsmöglichkeiten der europäischen Gesundheitssysteme, deren vermeintliche Zukunft der kroatische Gesundheitsminister zuvor prognostiziert hatte. Dr. Sinisa Varga unternahm dabei den kühnen Versuch, bis ins Jahr 2070 vorauszublicken und bemühte dazu Hochrechnungen der OECD. Demzufolge sei bis zu diesem Zeitpunkt eine Steigerung der Gesundheitsausgaben in den einzelnen Ländern von derzeit 10 bis 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) auf 46 Prozent in Deutschland, 50 Prozent in der Schweiz oder gar 65 Prozent in den Vereinigten Staaten zu erwarten, sollten grundlegende Systemänderungen nicht rechtzeitig in die Wege geleitet werden. Kroatien versucht das jetzt ebenso wie viele andere europäische Staaten. Dort heißt das Reformpaket „Nationaler Reformplan“ und hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, eine „verstärkte Kostenkontrolle in den öffentlichen Spitälern“ zu erreichen, ein landesweit einheitliches Spitalskonzept zu entwickeln, die „zentrale Steuerung“ zu intensivieren, die – im Gegensatz zu Österreich oder Deutschland bereits entwickelten – E-Health-Lösungen wie etwa E-Medikation oder E-Wartelisten weiter auszubauen und die Primärversorgung zu stärken.

Über das Ziel schießend?

Allesamt vertraute Begriffe für die österreichischen Teilnehmer. Einer von ihnen war wie erwähnt Ärztekammerpräsident Wechselberger. Für ihn habe die Ökonomie im Gesundheitswesen nur dort ihre Berechtigung, wo sie dabei helfen kann, die beschränkt zur Verfügung stehenden Gelder mit größtmöglicher Effizienz zu verteilen, argumentierte Wechselberger: „Wir erwarten aber nicht, dass sie uns sagt, wie viel Geld wir insgesamt zur Verfügung haben“, spielte der Präsident auf die Bindung des Anstiegs der öffentlichen Gesundheitsausgaben an das nominelle Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Österreich an. „Wir sprechen hier von einer solidarischen Finanzierung“, erläuterte der ÖÄK-Präsident, „das heißt: Der Souverän, also die Bevölkerung, möchte diese Leistungen haben und ist bereit, Geld dafür auszugeben. Es stimmt, die Ausgaben für Gesundheit steigen, aber wenn die Bevölkerung das will, dann ist das in Ordnung.“
Seine Tätigkeit müsse der Arzt im Sinne der bestmöglichen Betreuung des Individuums jedenfalls unbeeinflusst ausüben können, verlangte Wechselberger. Das sei „Grundvoraussetzung, um ein Umfeld zu schaffen, in dem Ärzte auch weiterhin bereit sind, ihr Herzblut einzubringen.“ Ökonomisierung auf die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung heruntergebrochen würde hingegen „das Vertrauensverhältnis zerstören“.
Unterstützung erhielt Wechselberger von Dr. Bernd Hontschik. Auch der niedergelassene Chirurg und erfolgreiche Autor (u. a. „Körper, Seele, Mensch“, 2006) sieht in der Arzt-Patienten-Beziehung „das Zentrum unserer Arbeit. Davon weiß die Ökonomie aber nichts und will es auch gar nicht wissen.“ Ärztliche Arbeit könne zum Beispiel darin bestehen, erläutert Hontschik, einem Patienten eine halbe Stunde lang zuzuhören, mit ihm zu sprechen und nach einem Weg zu suchen. Das Ergebnis könne dann auch durchaus sein, „dass es am besten ist, nichts zu tun. Aber wie misst man das Nichtstun? Wie aber soll ich einem Betriebswirtschaftler erklären, dass es die höchste ärztliche Kunst sein kann, nichts zu tun?“
Hontschik stellte zudem die Prognose Vargas, wonach die Gesundheitskosten bezogen auf das BIP immer weiter steigen, infrage. Die immer wieder ins Treffen geführte These einer Kostenexplosion aufgrund der demografischen Entwicklung werde dadurch nicht richtiger, nur weil sie ständig wiederholt werde, führte Hontschik aus. Sie sei nichts als ein „Propagandatrick, um ökonomische Veränderungen im System durchzusetzen, ohne jemals einzutreten. Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, es hat auch noch nie eine gegeben.“ Die Ausgaben für das Gesundheitswesen lägen seit Jahrzehnten konstant zwischen 10 und 12 Prozent des BIP mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten. Die immer weiter steigende Lebenserwartung bzw. der immer höhere Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung würden zwar ein verändertes Krankheitsspektrum mit sich bringen, aber zu „keinen unlösbaren Problemen“ für das Gesundheitswesen führen. „Jeder Mensch verursacht etwa 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen im letzten Jahr seines Lebens, gleichgültig ob er mit 40, 60 oder 80 Jahren stirbt“, erklärte Hontschik. „Wenn die Propagandisten der Kostenexplosion und der Altersdemagogie recht hätten, dann wäre das Gesundheitswesen ja schon längst zusammengebrochen, ist es aber nicht.“

 

 

Spielregeln und Ordnungsprinzipien

Dr. Jens Deerberg-Wittram vom Institute for Strategy and Competitiveness an der Harvard Business School räumte in seiner Entgegnung der Hontschikschen Polemik zwar ein, dass die Ökonomisierungsversuche in der Gesundheitsversorgung „an vielen Stellen total übertrieben“ werden, die Notwendigkeit dazu aber sehr wohl bestehen würde, um eine „menschliche Medizin zu entwickeln, die auch wirtschaftlich funktioniert. Ich halte ein Gesundheitssystem, in dem Krankenhäuser konsequent rote Zahlen produzieren, die dann konsequent mit Steuermitteln ausgeglichen werden, weder für nachhaltig noch für ethisch besonders wertvoll, sondern einfach für totalen Quatsch“, sagte der ausgebildete Arzt und Gründungspräsident des ICHOM (International Consortium for Health Outcomes Measurement).
Ökonomisierung im Gesundheitswesen stellt nach Ansicht von Deerberg-Wittram in erster Linie den Versuch dar, Spielregeln und Ordnungsprinzipien in das System hineinzubekommen, um mit der Vielfalt menschlichen Verhaltens klarzukommen. „Ich habe tatsächlich immer wieder Kollegen aus dem ärztlichen Bereich erlebt, denen es völlig egal war, welchen Druck man auf sie ausgeübt hat oder welche Karotte man ihnen hingehängt hat, die immer wieder das Patientenwohl selbstlos in den Vordergrund gestellt haben. Und ich habe auch die Leute erlebt, die quasi ohne Karotte losgelaufen sind, gnadenlos das gemacht haben, was in irgendeiner Weise leichter ist, mehr Geld bringt und vielleicht am Ende den Patienten schadet. Wir haben es im Gesundheitswesen mit der ganzen Bandbreite menschlichen Tuns und Verhaltens zu tun. Wir müssen das Ganze organisieren und wir müssen dafür Regeln finden.“
Zu diesen ökonomischen Ordnungsprinzipien zählen laut von Deerberg-Wittram eine strategische Planung, Zielvereinbarungen, Transparenz, Qualitätskriterien sowie ein vernünftiges Verhältnis von Lösungen zu den dafür eingesetzte Mitteln. „Das sind Dinge, die eine Ökonomie ausmachen. Und es wäre unfair, wenn wir sagen würden: Von all diesen Dingen lassen wir die medizinisch tätigen Kollegen unbehelligt.“

Schulterschluss

Der einzig gangbare Weg der Zukunft könne also nur ein Miteinander von Ärzten und Ökonomen sein, regte Dr. Christoph Veit, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen, einen Schulterschluss zwischen Medizin und Ökonomie an. Denn es gäbe nichts mehr zu fürchten „als zwei Dinge: erstens, dass die Versorgenden ganz unabhängig entscheiden, was sie machen wollen, vor allem dann, wenn sie selbst am Erfolg beteiligt werden, und zweitens, dass Ökonomen anfangen zu bestimmen, was therapiert wird.“ Jedes ärztliche Handeln sei letztendlich nicht nur qualitätsrelevant, sondern hätte auch wirtschaftliche Konsequenzen. Daher könne ein funktionierendes Gesundheitswesen der Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden, von den medizinischen Experten und den Ökonomen.