„Wie kann jemand eine Abteilung oder Klinik führen, wenn er acht Stunden oder mehr im OP steht?“, bringt Dr. Günther Schreiber, Projektmanager und Koordinator der Branche Gesundheitswesen bei Quality Austria, die aktuelle Problematik auf den Punkt und verweist auf den dringenden Handlungsbedarf durch steigende Herausforderungen an das Personal und die Leistungen in der Gesundheitsbranche. Die stetig wachsenden Anforderungen bedürfen nach Ansicht des Experten noch mehr Leadership und der Fokussierung auf Qualität. Der Status quo in Österreich erschwert allerdings eine Besetzung von Führungskräften im Sinne von Leadership, da meist der beste Chirurg als Leiter eingestellt wird. Und die Zahlen sprechen für sich, wie Schreiber aus deutschen Umfragen weiß: „45 % der deutschen Chefärzte geben an, dass sie einen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlichem Druck und medizinischer Entscheidung haben und in den letzten sechs Monaten mindestens einmal aus ökonomischen Überlegungen eine Leistung vorenthalten haben.“ Angesichts dieser Aussagen stellt sich doch die Frage, wie das System überhaupt dem ständig wachsenden Bedarf einer älter werdenden Bevölkerung gerecht werden kann. „Das Wichtigste, worauf wir uns im Gesundheitswesen fokussieren müssen, ist die Qualität. Medizin ist dann gut, wenn sie dem Patienten hilft, und das kann nicht nur immer die ökonomisch beste Entscheidung sein. Gleichzeitig kann Qualität kein Thema werden, wenn in den meisten Spitälern nicht einmal die Ressourcen für den normalen Betrieb sichergestellt werden können“, beschreibt Schreiber das Dilemma.
Dennoch lassen sich viele Spitäler als sichtbaren Ausdruck von Qualität nach ISO 9001 zertifizieren und setzen damit wohl auf das richtige Pferd, denn nur ein gelebtes Qualitäts- und Risikomanagement ist der Ansatz für einen Ausweg aus der Krise. Langfristig werden nämlich gerade jene Einrichtungen mit den niedrigsten Kosten punkten, die ihre Organisation verstehen, die Erwartungen der Mitarbeiter und Patienten beachten und an einer kontinuierlichen Verbesserung arbeiten – kurz: ein Qualitätsmanagementsystem implementieren, aber – noch viel wesentlicher – einen Kulturwandel einleiten, der zu mehr Zusammenarbeit, zu einer lernenden Organisation auf Basis einer ausgeprägten Fehlerkultur und schließlich zu mehr Menschlichkeit in der Medizin führen wird. Dieser Kulturwandel erfordert mehr als nur „Management“ von Gesundheitseinrichtungen, das sich vorwiegend auf Planung, Organisation, Steuerung und passives Problemlösen konzentriert. Gefragt ist Leadership – ein Führungskonzept, das Richtung gibt, motiviert, inspiriert und aktiv Veränderungen einleitet.
Während in der bisherigen Fassung der ISO 9001:2008 die „Verantwortung der Leitung“ für ein qualitätsgerechtes Handeln in die Pflicht genommen wurde, nennt die neue Fassung ISO 9001:2015 nun das Thema sehr deutlich beim Namen: In Kapitel fünf heißt es „Führung“, damit wird Qualität eindeutig zur Chefsache und fordert die Einbeziehung, Anleitung und Unterstützung von Personen, um ein Qualitätsmanagementsystem auch wirksam zu leben.
Führungspersonen müssen Verantwortung für die Qualitätspolitik und -ziele übernehmen und dafür sorgen, dass in der Organisation ein Qualitätsbewusstsein entsteht. Das erfordert vor allem ein risikobasiertes Denken, eine Prozess- und Ergebnisorientierung, aber auch die Einbeziehung der Mitarbeiter und setzt voraus, dass der „Kontext der Organisation“ verstanden wird – was ist der Zweck eines Spitals, welche Einflussfaktoren spielen eine Rolle und welche Ansprüche und Erwartungen gilt es zu erfüllen. Dieses Umfeld ist bei Weitem nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick scheint: „Neue Forschungsergebnisse, innovative Produkte und Techniken, aber auch rechtliche Rahmenbedingungen müssen laufend abgestimmt werden und gleichzeitig den vielen Anspruchsgruppen gerecht werden“, so Schreiber. Wie das gelingen kann, beschreibt die Norm: „Indem von der Führung sichergestellt wird, dass die Qualitätspolitik festgelegt und mit der strategischen Ausrichtung der Organisation vereinbar ist.“
In der Norm geht es neben dem Thema Führen auch um Kommunikation und wie mit Change-Management-Prozessen erfolgreich umgegangen werden kann. Krankenhäuser sind sehr komplexe Systeme, die unterschiedliche Interessenpartner – von Patienten und Eigentümern bis hin zu Wissenschaft und Lehre – bedienen müssen. Dass in diesem Konnex „Führung“ kein einfaches Unterfangen ist, weiß auch Univ.-Prof. Dr. Gabriela-Verena Kornek, Ärztliche Direktorin des AKH Wien.
Immerhin müssen hier neben rund 104.000 stationären Patienten pro Jahr auch noch rund 1,2 Mio. ambulante Besucher betreut werden. Dem stehen 9.400 Mitarbeiter, darunter ca. 1.500 Ärzte, gegenüber. Daher komme dem Kommunikationsprozess hinsichtlich interner und externer Stakeholder eine besondere Bedeutung zu. Dazu braucht es Kommunikationsstrukturen und einen entsprechenden Prozess, um diese Komplexität zu bewältigen: „Es ist wichtig, dass die Kommunikation zwischen den Schnittstellen gepflegt und Qualitätsmanagement vom gesamten Team gelebt wird“, so Kornek.
Schreiber ging weiteren Trends im Gesundheitswesen nach und präsentierte aktuelle Studien und Statistiken aus Deutschland und Europa rund um das Dauerbrennerthema Qualität und Sicherheit im Krankenhaus. Von der Behandlungsfehler-Begutachtung der MDK-Gemeinschaft in Deutschland wurden 14.663 Verdachtsfälle im Jahr 2014 untersucht. Bei mehr als einem Viertel waren Behandlungsfehler mit einem Schaden festgestellt worden, bei über einem Fünftel wurde auch eine Kausalität für den Schaden nachgewiesen. Laut der Studie „Special Eurobarometer 411 – Patient Safety and Quality of Care Report“ wird geschätzt, dass 8 bis 12 % der Patienten ein unerwünschtes Ereignis erfahren, wie nosokomiale Infektionen, Medikamentenfehler, chirurgische Fehler oder Diagnosefehler. Einer von 18 Patienten zieht sich eine nosokomiale Infektion zu. EU-weit bedeute dies geschätzte 4,1 Mio. Patienten mit nosokomialen Infektionen und mindestens 37.000 Patienten, die daran sterben. Allerdings könnten 20 bis 30 % dieser Fälle verhindert werden, wenn Hygienemanagement im Krankenhaus als Schwerpunkt definiert wird. „Die Antwort ist konsequentes klinisches Risikomanagement, an Qualitätsmanagement kommt daher keiner vorbei“, ist Schreiber sicher. Qualitätsmanagement heißt aber auch, eine Fehlerkultur zu entwickeln, Korrektur- und Vorbeugemaßnahmen müssen dabei Hand in Hand gehen.
Dass die mehrdimensionalen Anforderungen an die Gesundheitsorganisationen einen strukturellen Wandel benötigen, bestätigte auch Dr. Lars-Peter Kamolz, Abteilungsleiter Plastische Chirurgie, LKH-Universitätsklinikum Graz. Die Anforderungen an die Organisationen des Gesundheitswesens sind nach seiner Erfahrung bereits in der Vergangenheit durch die demografische Entwicklung, aber auch den Arbeits-, Zeit- und Kostendruck gestiegen und würden durch neue Technologien künftig noch weiter ansteigen. „Wir müssen führen und managen. Die alten hierarchischen Strukturen funktionieren nicht mehr“, so Kamolz, daher komme Kommunikation in Phasen der Veränderung eine zentrale Bedeutung zu: „Geredet wird viel, aber zu wenig kommuniziert.“ Er präsentierte dazu das Modell der „Transformationalen Führung“, das darauf setzt, Vertrauen aufzubauen und Ziele transparent zu kommunizieren. „Die Ziele müssten realistisch sein. Transparenz ist wichtig und wird mit Kennzahlen geschaffen“, so Kamolz.
Transparenz ist aber nicht nur im internen Betrieb, sondern gegenüber den Patienten ein zentrales Schlagwort. Patienten werden bei der Wahl des Gesundheitsbetriebes zunehmend dessen Reputation und die Meinung anderer Patienten in ihren Entscheidungsprozes
s einfließen lassen. Im Internet machen bestehende Weiterempfehlungsplattformen für Gesundheitsbetriebe schon jetzt die Bewertung der Ergebnisqualität durch Patienten möglich. Laut Eurobarometer Studie spiele in den Niederlanden der Nachweis einer Zertifizierung bei 30 % der Befragten bereits eine große Rolle. Der Ruf eines Krankenhauses wird daher in Zukunft immer wichtiger. „In den Gesundheitsbetrieben ist daher ein Kulturwandel einerseits, aber auch eine Verbesserung der Qualität gefragt. Die Norm ist ein Werkzeug, um Change-Management-Projekte zu unterstützen“, so Schreiber.