Pflegerelevante Phänomene und Risiken einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und zu evaluieren, erfordert in der Pflege die Nutzung von Assessment- und Screening-Instrumenten. Zur differenzierten Erfassung und Ursachenabklärung einer gesundheitsbezogenen Situation oder zur Begründung von geplanten Maßnahmen eignet sich der Einsatz von Assessment-Instrumenten. Im Gegensatz dazu stehen Screening-Instrumente für das frühzeitige Identifizieren von Menschen mit Risiko für ein Gesundheitsproblem oder jene, die von einem solchen bereits betroffen sind. Diese Instrumente müssen in einer Überprüfung der Qualität der Items anhand einer zuvor gewählten Stichprobe getestet (validiert) werden3. Dabei soll die Zielpopulation, für die das Instrument oder die Skala bestimmt ist, gut abbilden. Im vorliegenden Beitrag werden beide Begriffe synonym verwendet.
„Am häufigsten kommen Assessment- und Screening-Instrumente derzeit bei Pflegethemen wie Thromboseprophylaxe, Inkontinenzassoziierte Dermatitis (IAD)1,2 Dekubitus, Sturz, Mobilisation, Ernährungszustand, Demenz, Delirium und einigen anderen vermehrt zum Einsatz“, erklärt Ass.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Müller, MSc vom Institut für Pflegewissenschaft am Department für Pflegewissenschaft und Gerontologie an der privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik GmbH (UMIT) in Hall in Tirol. Müller ist organisatorischer Leiter des Masterstudiums Pflegewissenschaft und konzentriert seine Forschungstätigkeit unter anderem auf die Bestimmung der wissenschaftlichen Gütekriterien von pflegebezogenen Assessment- und Screening-Instrumenten.
Müller spricht von einem Assessment- und Screening-Boom, der auf ökonomischen, wissenschaftlichen oder gesundheitspolitischen Gründen5 beruht. „In der Praxis sind manche Skalen schon lange etabliert, was aber nicht bedeuten soll, dass man ihnen gegenüber unkritisch sein sollte. Die instrumentenbezogenen – Inhalte der klassischen und probabilistischen Testtheorie – und anwendungsbezogenen Gütekriterien – zum Beispiel klinische Wirksamkeit, Handhabbarkeit, ökonometrischen Bewertung – müssen auch wie bei den neu entwickelten Skalen geprüft werden“, so Müller und tritt somit für verstärkte Forschung dahingehend ein. „Ebenso müssen in einigen Bereichen neue Instrumenten entwickelt werden, zum Beispiel die Einschätzung der Pflegequalität betreffend, sowie ältere Skalen anhand derzeitigerer Studienresultate überarbeitet werden“, meint Müller.
In der pflegerischen Grundausbildung nehmen Assessment- und Screening-Instrumente keine prominente Position ein und werden nur ansatzweise vermittelt. „Ihr Einsatz ist naturgemäß sehr von der Überzeugung der Dozenten/Lehrpersonen abhängig“, räumt Müller ein. „An der Universität oder an den Fachhochschulen baut man dagegen verstärkt auf Skalen. Eine Zunahme der Nutzung ist in vielen Häusern durchaus spürbar – aus meiner Sicht wäre es aber freilich wünschenswert, wenn öfter mit diesen Instrumenten gearbeitet würde.“ In den Weiterbildungen für Gesundheits- und Krankenpflegeberufe werden Assessment- und Screening-Instrumente hingegen durchaus vermehrt eingebracht. Informations- und Schulungsangebote, um das Potenzial von Instrumenten auszuschöpfen, sind laut dem Experten kaum in ausreichendem Umfang verfügbar. „In der Grundausbildung, aber insbesondere in Weiterbildungen sind Schulungen im Umgang mit Skalen essenziell, um so nicht nur Erfahrungen im Umgang mit den Skalen zu sammeln, sondern auch den Wert zu erkennen“, sagt Müller.
Als Ursache für die Unterschätzung des Wertes von Instrumenten sieht Müller, dass die Anwendung von Instrumenten in der Praxis zu wenig gelebt werde. „Die Gründe liegen im Nichterkennen der Relevanz und des klinischen Nutzens des Instruments – nur zusätzlicher Arbeitsaufwand, so haben wir es immer schon gemacht – und das geringe Vertrauen in die Studienergebnisse, um nur einige zu nennen.“ Müller plädiert daher für eine intensivere Nutzung von Assessment- und Screening-Instrumenten in der Pflege, um Pflegepersonen für einzelne Themen zu sensibilisieren und Maßnahmen zu kanalisieren. „Skalen sind Hilfsmittel, sie sollen keinen Zusatzaufwand darstellen, sondern helfen, die Maßnahmen in die effizienteste Richtung zu lenken, also sensibilisieren und kanalisieren auf pflegerelevante Phänomene. Wenn also beispielsweise auf einer chirurgischen Abteilung vermehrt postoperative Thromboembolien auftreten, kann ein Screening-Instrument – zum Beispiel die deutsche Version der Autar-DVT-Skala4 – eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit des Personals auf das Risiko zu lenken. Alleine damit ist meist schon ein Änderungsprozess initiiert“, liefert Müller ein Beispiel. Als weiteres Beispiel für ein praktikables Instrument nennt der Experte die deutsche Version des Inkontinenzassoziierten Dermatitis Interventionstools (IADIT-D)6, eine Skala zur Risikoerfassung und Klassifizierung der IAD, inklusive Anwendungshinweise und pflegerische Interventionsvorschläge zur Prävention und/oder Behandlung von IAD. Müller erklärt den Vorteil des Instruments: „Die Differenzierung von IAD und Dekubitus ist mitunter schwierig. Diese Skala hilft Experten, eine akkurate Unterscheidung zwischen den beiden Pflegephänomenen zu bestimmen.“
„Grundsätzlich wird der Pflegeprozess durch das Zusammenspiel von drei Charakteristika beeinflusst“, erläutert Müller. „Einerseits durch die Intuition der Pflegeperson, andererseits durch das Pflege-Assessment, also die Befragung, und durch Assessment- und Screening-Instrumente. Sogenannte (Fokus-) Assessment- und Screening-Instrumente sollten im Pflegeprozess kontinuierlich eingesetzt werden.“ Der Einsatz von Skalen erleichtert somit sowohl die Erstellung der Pflegediagnose als auch die Planung von Pflegemaßnahmen und die Ergebnisevaluierung. Assessment- und Screening-Instrumente sind ein unverzichtbarer Teil des Pflegeprozesses.
Im Gesundheitssektor liegen derzeit einige populäre Assessment- und Screening-Instrumente vor. „Die Entwicklung von Assessment-Instrumenten zur Entlassungsplanung – wie derzeit in Deutschland dahingehend geforscht wird – ist aus gesundheitspolitischer Perspektive ein sehr wichtiges Feld. Des Weiteren liegt in einigen Assessment- und Screening-Instrumenten das Potenzial, ihr Anwendungsspektrum bezogen auf die Zielpopulation zu erweitern, was ebenso ein ausbaufähiges Forschungsfeld darstellt“, sagt Müller.
Der Experte würde sich einen verstärkten Einsatz von Skalen im extramuralen Bereich wünschen, um einerseits zu sensibilisieren sowie zu kanalisieren und andererseits, um auch eine evidenzgestützte Pflegepraxis voranzutreiben. „Speziell im Kinderbereich, bei chronischen Krankheiten wie COPD, Nieren- oder Herzinsuffizienz oder zur Schmerzeinschätzung bei demenziellen Menschen, zur Erfassung eines Deliriumrisikos, zur Erfassung von IAD, aber auch im Krankenhaus zur Vorbereitung der Entlassung können Skalen die Pflegepraxis enorm unterstützen. Eine Verbreitung von Assessment- und Screening-Instrumenten müsste sowohl von den Ausbildungsstätten als auch vom Pflegemanagement forciert werden“, wünscht sich Müller abschließend.
Literaturquellen
1 Beeckman D., Schoonhoven L., Verhaeghe S., Heyneman A., Defloor T. (2009). Prevention and treatment of incontinence-associated dermatitis: literature review. Journal of Advanced Nursing, 65, 1141-1154
2 Beekman D., Global IAD Expert Panel (2015). Proceedings of the Global IAD Expert Panel. Incontinence-associated dermatitis: moving prevention forward. Wounds International. Available to download from www.woundsinternational.com
3 Moosbrugger H., Kelava A. (2008). Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Heidelberg, Springer Verlag
4 Müller G., Fritz E., Them C. (2008). Übersetzung der englischen Autar Deep Vein Thrombosis (DVT) Skala zur Einschätzung des Thromboserisikos. Pflegezeitschrift, 61, 94-99
5 Reuschenbach B., Mahler C. (Hrsg.) (2011). Pflegebezogene Assessmentinstrumente. Internationales Handbuch für Pflegeforschung und -praxis. Bern, Verlag Hans Huber
6 Steininger A., Jukic-Puntigam M., Urban W., Müller G. (2012). Eine Delphi-Studie zur Inhaltsvaliditätsprüfung des deutschen Inkontinenzassoziierten Dermatitis Interventions Tools (IADIT-D). Pflegewissenschaft, 12, 85-92